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Daniel Ambühl  Bildweg  >  Dokumente

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Bildweg, Kunst und Bildung
 

Text aus dem Faltblatt zum Bildweg von Zürich 1997

 

Kunst ist Bildung

Das hört man heute doppelt ungern. Nämlich dass Kunst etwas Bestimmtes sei, und dass sie dazu noch Bildung sei, also mit dem Moder geistiger Bevormundung behaftet. Für die meisten Kunstliebhaber ist das Schöne an der Kunst gerade, dass sie selber nichts Bestimmtes ist, sondern dass ihr Besitzer oder Betrachter mit ihr nach Belieben machen und verfahren kann, wie er will. Auch viele Künstler betonen heute, dass das Grossartige an ihrer künstlerischen Tätigkeit sei, dass sie damit nichts bestimmtes Aussagen müssten. Selbst für die Mehrheit der Kuratorinnen und Kuratoren, die ja heute die eigentlichen Kunstschaffenden sind, indem sie Künstler nach Belieben benutzen, um ihr eigenes,  wenn auch meist in hartnäckigen, tiefschweigsamen Neurosen versunkenes Programm zu illustrieren, gilt, dass sie sich über diese Instrumentalisierung von Künstlern *1 keineswegs bewusst sind und sich unter den Vorwand vernebeln, sie wollten damit den Zustand der Gesellschaft und dergleichen abbilden, meist mit tatkräftiger Unterstütztung irgendwelcher staatlicher Institutionen, die sich gerne auf den biedermeierlichen Gemeinplatz berufen, die Kunst sei die Seismographin gesellschaftlicher Vorgänge. Solcher Unsinn ist mir auch von Journalisten bekannt, die in der festen Überzeugung leben, sie bildeten mit ihren Berichten und Artikeln, die Wirklichkeit dieser Welt ab, während doch das krasse Gegenteil der Fall ist, dass sie nämlich mit ihren Berichten einen von ihnen ausgewählten und zurecht gemachten Aspekt dieser Welt auf einem durch und durch kommerziellen Markt gemäss Angebot und Nachfrage als Wirklichkeit verkaufen. Der eklatante Bildungsmangel in diesem Bereich ist pure Absicht. Ein grossartiger Medienpädagoge wie Christian Doelker darf als Professor arbeiten. Aber dass sich die für die Mündigkeit heutiger Menschen so bedeutsame Aufklärung über das Funktionieren der Medien in den Schulen installieren könnte; davon sind wie heute aus naheliegenden - nämlich billigen, oberflächlichen machtpolitischen Gründen - genauso weit entfernt wie vor 30 Jahren.

"Das Fernsehen wird immer ein Bildungsinstrument bleiben. Die Frage ist nur, welche Bildung jeweils vermittelt wird und wie bewusst diese Vorgänge für die Produzenten und Konsumenten des Fernsehens sind. Leider wurde der Bildungsauftrag an das SF DRS, der Kulturauftrag, nur sehr schwammig formuliert und es ist simpel, ihn mit etwas Rethorik in fast jede beliebige Richtung zu drehen. Am Nützlichsten für solche Kehrtwendungen sind die sogenannten Sachzwänge. Ich meine nicht, dass man ein fundamentalistisches Schreckensregime von TV-Mullahs etablieren soll, die ihren Kulturkoran mit Blut und Spucke durchpeitschen. Im Gegenteil. Diese TV-Mullahs sind schon längst an der Arbeit, sie heissen: Werbung, Einschaltquote, Konkurrenz, Aufmerksamkeit um (fast) jeden Preis. Das ist der neue Kulturauftrag ans SF DRS."  Aus einem Brief an einen TV-Chefredaktor

Der Programmdirektor des Schweizer Fernsehens, Peter Schellenberg, der grosse Zyniker, hat diesen Zwängen wenig Widerstand geboten, sondern bezeichnenderweise als erste Cheftat die Abteilung Familie und Bildung schlichtweg liquidiert, weil ihm entweder der Gedanke oder die Kraft fehlte, sie zu erneuern. Die Grundfrage in diesem Zusammenhang lautet: Muss jeder desillusionierte Idealist zwangsläufig zum Zyniker werden? Ich meine: Nein. Zynismus ist Ausdruck einer seelischen Erschöpfung, die daher rührt, dass man Ideale einst als Wege zur Macht betrachtet hat, während man auf gerade diesem Weg belehrt wurde, dass auf ihm die Ideale abhanden kommen, aber die wenigsten dann noch umkehren wollen, sondern die Macht dann auch ohne Ideale ergreifen. Den genau gleichen Vorgang erkennt man auch im Hinblick auf die Geschichte von Radio 24 und auf die Biografie seines Gründers. Wer heute diesen Sender hört und über ein Minimum an Erinnerungsvermögen verfügt kann nur vom Verrat und Verkauf einer Generation reden. Auch da war eine erschöpfte Seele am Werk. Das börsenkotierte Medienunternehmen, welches den mittlerweile müden Goldesel Radio 24 aquiriert hat, hat ihm jetzt sogar noch die Futterrationen gekürzt, um noch mehr rauszuholen. Geblieben ist nur der Mythos des Namens und der Kommerz, das Medium degeneriert auf die Stufe schamlosen Devotionalienhandels. Auch das ist ein "lohnender" Weg vom verleugneten Idealismus zum Zynismus. Geld tröstet. Und wo sind in diesem Medienhaus die vielen harten Kritiker des jungen Piratensenders Radio 24 geblieben? Verstummt sind sie auf ihrem eigenen Beförderungs-Wegen vom Idealismus zum Zynismus, genannt Karriere. Sie werden alle sagen, sie seien eines "Besseren" belehrt worden, oder, um es mit den Worten Peter Schellenbergs stellvertretend für eine ganze Generation einstiger Idealisten zu sagen: "Ich mach das nur noch wegem dem Geld!" Ich habe nichts gegen das Geld verdienen und auch habe ich nichts gegen erschöpfte Seelen. Sie tun mir leid. Und weil sie dabei noch so selbstbewusst tun und sich so wichtig und sicher vorkommen in ihrer eingebildeten Macht, tun sie mir noch mehr leid, dass sie sich nicht selbst leid tun. Und dass sie den Schmerz nicht ertragen, dass sie überhaupt nie Idealisten waren, sondern nur unter der Maske von Idealismus camouflierte Machttiere. Wenigstens das hätten sie lernen können auf ihrem Bildungsweg des Lebens. Aber die Vorahnung solch erschütternder lebendiger Einsichten bewirken bei solchen Menschen meist nur Taubheit und Blindheit und eben dadurch auch eine tiefe Feindschaft gegenüber allem, was nach Bildung riecht.

Um schliesslich wieder auf die Kunst zu sprechen zu kommen: Ihre Werke unterliegen exakt denselben Mechanismen wie die Produkte anderer Branchen der Wirtschaft. In dieser Hinsicht ist eine Gesellschaft wirklich brutal gerecht. Und was den mit endlosem Palaver beschworenen Nutzen des Kunst- und Kulturbetriebes für die gesellschaftliche und individuelle menschliche Weiterentwicklung angeht, so bin ich zur Überzeugung gelangt, dass genau das Gegenteil von dem, was man erzählt, wahr ist. Es mag sein, dass in echter Kunst eine Vorahnung und ein Vortasten zukünftiger menschlicher und gesellschaftlicher Gegebenheiten anschaulich wird. Von solcher echter Kunst werden wir aber zu Lebzeiten kaum je etwas hören oder sehen, denn diese Vorschau wird als Spielverderberin des Genusses der Gegenwart empfunden und gehasst. Es ist mit dieser Spielverderberei echter Kunst aber nicht das vom Kulturapparat zweckmässig inszenierte Unbehagen gemeint, an welchem man zur schicken Unterhaltung gerne teilnimmt. Es ist eine tiefe Lüge in einem Kunsterlebnis verborgen, nach welchem man froh und erleichtert ist, wieder in die alte, gewohnte Umgebung zurückkehren zu dürfen. Das ist der Effekt des pompösen Schwindels von Achterbahnen, Newsshows und Hollywoodfilmen. *2

Der Markt und der Kommerz hat dieses der Kunst so oft angedichtete seismographische Gespür, was ihn in Frage stellt, zuerst mit Gleichgültigkeit zu strafen und wenn nötig auch zu unterdrücken. Dem sagt man in der Zoologie Instinkt. Dieses Stinken des Instinktes des Kunstmarktes ist der Grund, weshalb man die Kunsträume beweihräuchern und künstlich beduften muss, um den Gestank der Verwesung, der in ihnen herrscht, zu überschreien. Und daher dürstet es diese Bunker, Gruften und Katakomben nach nichts mehr als nach Licht.  

Wir leben in einer Zeit , in der es die Menschen in den virtuellen Kommunikations- Unterhaltungs- und Arbeitsräumen nach physischen, sinnlichen, sogenannt "echten" Erlebnissen dürstet. *3 Auch die Kunst und Kulturbetriebe versuchen, dieses Bedürfnis zum eigenen Vorteil zu nutzen. Disneyland, Freizeit-,  Sportparks und Kulturzentren werden sich immer ähnlicher. Heute spricht man von Erlebnisschule usw. Aber: Das Erlebnis muss in die  Sprache kommen, wenn es Kulturgut werden soll. Der kulturelle Grad eines Erlebnisses liegt nicht im Erlebnis selbst, sondern im Sprachschatz, durch den der Mensch sich dieses Erlebnis geistig aneignet. *4 Sonst beobachten wir nur das, was mit den Kindern geschieht, die vor dem Fernseher ihre Spielzeit verbringen und zur Inaktivität, Apathie und Stummheit erzogen werden. Den vielfältigen Erlebnissen, an welchen sie vor dem Bildschirm sitzend teilnehmen, entspricht oft keinerlei Sprachfähigkeit mehr, in welcher diese Kinder ihre Erlebnisse auffangen, sammeln,  strukturieren und vermitteln könnten. Man erkennt solche Kinder sehr schnell auf der Strasse: Man grüsst sie freundlich. Aber sie gehen ohne jede Gemütsregung und ohne den Gruss zu erwiedern, achtlos an einem vorbei, und verhalten sich damit genau so, wie sie es gelernt haben, nämlich als hätte eben der Moderator des Kinderprogramms zu ihnen gesprochen und sie gegrüsst. Bei dem hat es sich als völlig zwecklos erwiesen, zu antworten. Und der hört dem Kind ja auch nicht zu, wenn es in seiner göttlichen Naivität doch einmal zu ihm zu Reden versucht. 

Daher ist die Kunst die grosse Anregerin zur Bildung. Auch im Streit ist sie das, auch im Hass, der wenigstens noch Beziehung kennt, im Unterscheid zur Gleichgültigkeit. Das Ringen um den Begriff der Kunst zieht sich seit Menschengedenken wie ein roter Faden durch die Philosophie. Und auch die Wutausbrüche gegen den Krämergeist und die Niveaulosigkeit der Kunst regen das Gespräch an über die Frage: Was ist Kunst?

Heute würde ich nicht mehr schreiben "Kunst ist Bildung" sondern "Kunst als Bildung". Das hat nicht damit zu tun, dass ich früher eben dümmer war als heute - ich bin heute ja nur anders dümmer  als früher -  sondern es hat damit zu tun, dass für mich nach den zwischenzeitlich gemachten Erfahrungen die Gleichsetzung von Kunst mit Bildung eine Kurzschlussformulierung ist, die ich ich mir zwar verzeihe, aber die ich nicht wiederholen möchte. Denn Kunst ist Kunst und Bildung ist Bildung. Und wenn Kunst Bildung ist, gibt es beide nicht mehr. Der Titel "Kunst als Bildung" würde hingegen ausdrücken, dass es mir um den Aspekt der Bildung an der Kunst geht. Dass also auch beide Begriff exponiert werden müssen und ich mir nicht mehr den billigen Taschenspielertrick erlauben darf, der beide Begriffe nennt, sie gleichsetzt und damit beide im Raume der Begeisterung an der Gedankenlosigkeit zum Verschwinden bringt. 

Oder so: Zu meinem Weg der Kunst gehört, dass ich auf ihm die Dinge die ich in einem bestimmten Moment meines Lebens produziert habe, im Nachhinein wieder betrachte und kritisiere. *7 Und dass ich daran viel zu kritisieren finde. Und dass dabei gleichzeitig auch die Kritik wieder  Produkt eines solchen Lebensmomentes ist, aber an sich ebenso wieder kritisierbar. Dass also alles Produzierte zwar fertig, aber doch immer im Nachhinein nicht richtig war. Dass aber nicht Unrecht war, dieses Produkt zu produzieren, diese Stimmung in einem Bild festzuhalten, diesen Gedanken aufzuschreiben. Es sind nicht Bilder und geschriebene Worte für die Ewigkeit. Sie sind vergänglich. Nicht weil sie falsch waren sind sie vergänglich, sondern weil sie sich uns im Masse, in welchem wir uns wandeln, entfernen. Und wir dadurch die Distanz erhalten, Dank der wir sie von Neuem und mit anderen Augen betrachten, mit anderem Geist nachdenken können. Diese Bewegung scheint mir wesentlich für die Kunst. Ich könnte heute keinen einzigen Text mehr so schreiben, wie ich ihn früher geschrieben habe. Ich könnte ihn natürlich einfach abschreiben. Das heisst: rein technisch könnte ich ihn also beliebig oft kopieren. Dennoch könnte ich keinen einzigen Text mehr so schreiben, wie ich ihn früher geschrieben habe, denn so wie früher bin ich heute nicht mehr, so wie damals empfinde ich nicht mehr beim Schreiben, und ich schreibe also einen anderen neuen Text, selbst dann, wenn ich einen bestehenden früheren Text genau gleich nochmals abschreibe. Dieses Andere und Neue am abgeschriebenen Text ist dann aber von aussen nicht ersichtlich. Dieses Andere, Neue am abgeschriebenen Text ist privat geworden in meiner persönlichen Verschwiegenheit. Auch das gehört zur Kunst. Sie versucht, etwas Vergängliches durch Wiederholung und stete Erneuerung ewig zu machen.  

 

 

 

*1  Ein Beispiel für eine solche Instrumentalisierung der Künstler durch die gegenwärtige Gesellschaft habe ich 1997 im Essay "Die Schuld im Unverdauten" beschrieben. (Ziffern 18-23) Darin zeigt sich auch, dass das Museumswesen eigentlich die Werke der Künstler produziert, ja, dass dieses Museumswesen eigentlich einen eigenen Typus von Künstlern nach ihren Bedürfnissen herstellt. Dieser Effekt des Museumsbetriebs kann zwar schon seit dem Beginn des 20 Jahrhunderts klar beobachtet werden, hat sich aber heute in einem ungeheuren Masse verstärkt. Aus diesem Grund habe ich mich auch gegen eine verstärkte Kulturförderung durch den Staat ausgesprochen, denn Förderung ist nur eine andere Form von Zensur. Mein Leserbrief dazu im Vorfeld der Abstimmung über die Schweizerische Kulturförderungsinitiative wurde allerdings von keiner einzigen Zeitung publiziert.
>> Die Schuld im Unverdauten  (Ziffern 18-23)

*2  Wer dazu ausführlicheres lesen möchte, wage sich an mein fragmentarisches Essay "Nachtland", in welchem ich versuche die Gestalt des Amerikaners zu beschreiben. Dabei ist Amerikaner nicht zu verstehen als der Bürger der USA, sondern als eine bestimmte Haltung in jedem Menschen, die in unserer Zeit zu weltweiter Entfaltung gekommen ist. Wir sind alle Amerikaner. Ich betone dies umso ausdrücklicher, als dies kein weiterer "antiamerikanischer" Beitrag in politischem Sinne ist, sondern der Versuch der Fassung eines menschlichen Verhaltensarchetyps. Geschrieben 1996 in Berlin.
>>  Nachtland

*3  Echtheit, Einmaligkeit, Einzigartigkeit und Aura sind Leitbegriffe unserer Zeit der Massenprodukte und Massenveranstaltungen.  Walter Benjamin hat dazu in seinem Essay "Die Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit" in diese Wunde gegriffen, die heute mit vielerlei esoterischen Pflastern notdürftig zugeklebt wird,  Pflastern aber, die hübsch aussehen, unter welchem die Wunde aber nicht heilt, sondern eitert, weil sie nicht ausgewaschen wird und weil sie nicht atmen kann. 

*4  Die geistige Aneigung eines Erlebnisses ist eine grosse Bedrohung für Betriebe und Institutionen, die Erlebnisse verkaufen (Kirchen eingeschlossen). Denn geistige Aneigung bedeutet auch Befreiung aus der durch das sprachlose Erlebnis perpetuierten Knechtschaft unter dem Erlebnis und bedeutet damit auch für diese Erlebnisbetriebe: Verlust eines Kunden. Wir sollten besser nicht vom Idealfall eines geistig geführten Betriebes ausgehen (auch bei Schulen und Universitäten nicht). Wie es auch oft angemessener ist, bei der Begegnung mit Menschen nicht grundsätzlich davon auszugehen, dass da ein Wesen vor uns steht, das seine Triebe geistig leitet, das heisst begrenzt und zurückhält. Ein Betrieb ist in der Regeln ein Tier. Tiere haben gute Instinkte. Ihr Immunsystem ist nicht dazu ausgerüstete zu unterscheiden ob sich ein Überleben unter gewissen Bedingungen lohnt.  Betriebe sind instinktiv gegen alles, was sie schwächen könnte, also auch gegen alles, was ihnen Kundschaft wegnimmt. usw. Dabei geht es wie schon gesagt nie um eine reflektierte Qualität des Überlebens, sondern immer nur um quantitatives Überleben und Wachstum. Nüchtern betrachtet gibt es zu dieser Regel nicht einmal Ausnahmen, die sie bestätigen könnten. Es muss uns genügen, dass wir uns solche Ausnahmen wenigstens vorstellen können. Aber genau das,  dass wir uns mit dieser Vorstellung alleine nicht begnügen können, verursacht diesen Schmerz, der uns dazu antreibt - gegen besseres Wisssen - dennoch zu versuchen, dies Unmögliche zu realisieren. Nicht aber so, dass wir diese Ausnahme von anderen fordern, sondern indem wir sie selbst und vielleicht mutterseelenalleine persönlich tun und leben. Und vielleicht auch: Indem wir scheitern. 

*5  >>  Tagebucheintrag  Tolstoi: Was ist Kunst?

*6  Das Problem des vereinsamten Singles und der kinderlosen Paare ist nicht, dass sie keine Verwandtschaftsbeziehungen mehr pflegen. Der Impuls unserer gesellschaftlichen Entwicklung  hat doch gerade auch diesen Vorteil zu erringen versucht, aus den naturgegebenen Beziehungen und Strukturen durch die familiäre Verwandtschaft sich zu befreien. Denn zweifellos bedeuten enge und stark hierarchisierte Familienstrukturen (ob vater- oder mutterrechtliche) nicht nur Geborgenheit und Wärme - dieses nostalgische Zerrbild kann sich nur ein vereinsamter Grosstadtmensch ausmalen - sondern auch Unterwerfung, Beschränkung der eigenen Initiative, also auch Beschneidung der Mündigkeit und Lebensvollmacht des Einzelnen. Das Problem des Singles ist es vielmehr, dass er in einer Phase der Zivilisation lebt, in welcher die gelösten oder lockeren Bande zu den naturgegebenen Verwandten noch nicht ersetzt sind, durch ein ebenso starkes Bündel von frei gewählten Beziehungen zu Freunden und Bekannten, respektive, dass in dieser Übergangsgeneration noch kein gültiger Verhaltenskodex für den Aufbau einer eigenen tragbaren Beziehungsstruktur gefunden wurde. Die unfamiliär lebende Zivilisationsgeneration ringt noch um diese neuen Strukturen, in denen sich wieder ein menschliches Umfeld konstituieren kann, welches vieles von dem ersetzen könnte, was heute von Psychologen, Heilpraktikern,  Gesprächsgruppen und irgendwelchen Therapeuten gegen Bezahlung geleistet wird. Denn was dem Einzelnen vor allem fehlt, und was eine Grossfamilie noch natürlicherweise jedem Mitglied anbot,  ist seine Teilhabe an einem kollektiven, generationsübergreifenden Erfahrungsschatz, der heute so notdürftig zusammengekauft wird.  

*7  Ich nenne diesen Vorgang "Personal Archeology". Ihre Grundthese lautet, dass sich der Mensch nicht kennen lernt, indem er in der Vergangeheit irgendwelche Ursachen für den Zustand seiner Gegenwart sucht, sondern, dass er versuchen sollte, Produkte und Dokumente seiner Vergangenheit zu betrachten wie ein Archäologe, der auf die Ruinen eines längst vergangenen Volkes stösst und sich an Hand dieser Fundgegenstände fragt, wie wohl das Leben damals war. Ein Archäologe würde wohl einwenden, dass man es bei der Personal Archäology sehr einfach habe, da man doch keineswegs in einem echten Gebiet der Prähistorie forsche, sondern über sein Leben und die Zeit die man untersucht sogar persönliche Erinnerungen bewahrt habe. Diese Erinnerungen aber sind vielleicht manchmal mehr irreführend als hilfreich, weil sie biografische Mythen sind. Diese Gefahr betrifft den Archäologen auch, denn auch er trägt seine Mythen in sein Grabungsfeld hinein und muss sich dieser besonders geprägten Sichtweise, die er mit sich in seinen Untersuchungsgegenstand hineinträgt, zumindest bewusst sein, denn ablegen kann er sie nicht.

 

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