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Daniel Ambühl  Bildweg  Borken   Dokumente

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x Das Kleid des Menschen

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X Begleitheft zum Bildweg in Borken 1997

 

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Inhalt

Schnittmuster  >

1.  Der Turm 
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2.  Die Vertreibung aus dem Paradies 
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3.  Der nackte Baum 
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4.  Kain und Abel 
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5.  Geburt in die eigene Zeit 
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6.  Pieta 
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7.  Das Buch des Lebens 
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Schnittmuster

Es ist eine Freude und Ehre, in einer Stadt Gast sein zu dürfen, die in ihrem Namen die Rinde, die Haut des Baumes also, trägt. Die Haut ist doch das grosse Austausch- und Berührungsorgan des Menschen; wenn eine Stadt mit diesem Namen einen derart lebendigen kulturellen Austausch pflegt, nimmt man gerne daran teil.

Diese Borke aber hat in ihrer Geschichte, besonders im letzten Krieg, auch grosses Leid, Kerben und Beschneidungen erfahren. Ist es dann nicht erstaunlich, dass gerade hier die Textilindustrie Fuss fasste und Reichtum schenkte? Die verletzliche Borke, die Haut des Menschen, wünscht sich ein Kleid, das sie schützt und wärmt und ihre Wunden verbirgt, so dass sie wieder heilen können.

Aus welchem Stoff ist aber das Kleid des Menschen gewoben? Das Kleid, das Äussere des Menschen ist zuerst einmal die Erde, sein Körper und der Ort, auf dem er steht. Aber vielmehr noch ist es die Welt, und wir wissen doch: die Welt ist mehr denn das, als was sie uns erscheint. Der Stoff der Welt ist aus Chiffern gewoben, die in die Zeit geknüpft sind als Geschichte und Geschichten, die zu hören und erleben das Privileg des Menschen ist und die Schatztruhe seiner Kultur. Chiffern sind jedoch keine Rätsel, die zu entziffern und zu lösen sind; sie sind Geheimnisse, die auf Weiteres und auf Tieferes hinweisen und nicht bloss auf ihre Enthüllung harren, sondern als Geheimnis zu bewahren und empfinden sind.

Wenn das Kleid des Menschen und der Welt diese Chiffern sind, in denen sich ihr Wesen keusch verbirgt, um nicht beglotzt und benutzt zu werden, dann ist es auch nicht gut, ihnen diese Kleider vom Leibe zu reissen. Mensch und Welt brauchen diesen Schutz, diese Ehrfurcht auch, um aus ihrer eigenen stillen und unbegreiflichen Mitte wachsen zu können. Sie brauchen und sehnen sich aber auch nach der Begegnung; da ist doch diese Haut, und die Kleider verdecken sie oft nur zart.

Der Stoff, aus denen die Kleider gewoben sind, sind die vielen Geschichten, die die Menschen erzählen von ihrem Leid und ihrer Freude, von ihrem Leben und ihren kleinen und grossen Toden. Und auch die Welt erzählt dem sanften Menschen, der sie sprechen lässt, von ihrem Sein und ihrem Leben, von den Wunderdingen, die da im Geheimnis ruhen.

Diese Geschichten von unseren Befindlichkeiten und von den Chiffern unseres Seins sind die Ausdrucksform, wie unser Innerstes sich "da draussen" äussern könnte. Wir möchten doch erkannt - ja, dann vielleicht sogar geliebt werden. Aber nicht nackt, sondern geschmückt mit dem Kleid des Menschen.

Der Mensch ist unbegreifbar. Die Unbegreifbarkeit ist letztlich dieses Kleid und sein Geheimnis. Und er tut auch sehr oft das Unbegreifliche: unbegreiflich Schönes und unbegreiflich Schreckliches. Wenn wir uns davor hüten vorzugeben, ihn trotzdem zu begreifen, dann hüten und bewahren wir sein Geheimnis, seine Menschlichkeit. Denn diese ist nur vorzufinden, wenn in der Begegnung nicht bewertet wird, sondern sein Wert unantastbar verborgen bleibt in den Kleidern, in den Chiffern seines Lebens.

Jeder Mensch verwendet Chiffern, um sich auszudrücken - in seinen Geschichten, in seiner Gestik, in seinem Tun und in seinem Hoffen. Da mag manchmal auch Lüge hineingewoben sein, manchmal Täuschung und doch immer wieder auch die Wahrheit, wenn wir sie zu erkennen mögen. Und jeder Mensch hat eigene Schnittmuster für seine Kleider, von der Bestimmung seines Lebens her. Wertschätzung - und nicht Bewertung - gibt uns die Möglichkeit, den Anderen und sein Schnittmuster zu verstehen, in seinem Scheitern und Gelingen.

Sein Schicksal, die Chiffern seines Wesens, sind dem Menschen zugeschnitten. Da geschehen viele Schnitte in seinem Leben - Abschiede, Begrenzungen -, die aber mit Sorgfalt diesen Baum zum Blühen bringen wollen, der der Mensch doch ist. Und dann wird der Mensch auch selbst von der Erde weggeschnitten; der Tod, er macht den letzten Schnitt für ein ewiges Kleid des Menschen.

Einzigartig ist der Mensch, und dies in Ewigkeit. Wir sehen die Schnittmuster in der Borke und ihren Wunden, die von der Seele her auf der Haut sich spiegeln. Und wir sehen die Schnittmuster in den Chiffern seines Kleids. Wir entdecken aber ein Grundmuster dieses Schnittes auch in der jüdischen Überlieferung, die die Zeit zwischen Ostern und Pfingsten, also die Zeit, in der wir uns jetzt befinden, als "Omer" bezeichnet, als das Schneiden des Weizens.

Im Frühling also schon, im Wachsen des Menschen, in seinem Leben, wird sein Kleid ihm zugeschnitten gemäss eines Schnittmusters, das ihm seine ewige Einzigartigkeit schenkt. Erst durch diese Gewissheit wird es dem Menschen möglich, sich von den "Bonsai-Schneidern" zu lösen, von denjenigen, die - fern jeder Kultur und Menschlichkeit - den Menschen für ihre Zwecke zuschneiden wollen und sein Eigenes, sein unantastbares Geheimnis verletzen.

Der Bildweg Borken erzählt in sieben Stationen eine Geschichte, aus Chiffern menschlicher Überlieferung, vom Kleid des Menschen, das ihn schützt vor dem Schnitt in die Würde seiner unantastbaren Einzigartigkeit - diese dann im Bild und Gleichnis jenes achten Bildes, das sich jeder selbst erschafft.

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Der Turm

 

Das erste, das auffälligste Kleid des Menschen ist sein Gesicht. Es zeigt nichts und alles. Die Augen geben Einblick bis zur Seele hin, so dass wir oft den Blick dann senken. Oder der Mund: zum Zungenkuss bereit, zum schweigenden Gespräch, oder einfach nur zum Schwatzen offen. Und die Nase, dieses Bollwerk in der Mitte, wie ein Turm. Was erzählt uns das Gesicht, das doch fast wie Geschichte tönt?

Auf dem Bild sehen wir links von ihm einen Fluss. Sind es seine Tränen? Und rechts, da steht ein Baum mit seiner Borke; Narben im Gesicht. Ausdruck seines Leids? Erfahrung seines Lebens?

Das Gesicht ist von Chiffern voll; wir wagen kaum, sie für das Endgültige zu deuten. Ist das Lächeln wirklich echt? Immer ist es in Bewegung, und bei jeder Bewegung ändern sich die Falten dieses Kleids.

Rot erscheint es auf dem Papier. Die anderen Farben werden noch dazukommen und seine Geschichte ganz erzählen, bis zum Geheimnis hin, wo das Unaussprechbare schweigt. Doch jetzt: Schämt es sich, weil wir es so genau betrachten?

In der Mitte ist ein Turm, doch das Gesicht ist eigentlich selbst ein Turm, der Ausschau hält, was da kommen mag und Begegnung sucht, auf der anderen Seite aber auch schützt wie die Borke eines Baums, um Feinde abzuwehren. Das eine Auge ist deshalb offen und das andere geschlossen. Und deshalb ist der Turm die Nase, weil dort die Beziehung, der Austausch stattfindet, der für uns lebenswichtig ist: das Atmen. Wir atmen ein und nehmen die äussere Welt in uns auf, werden von ihr beschenkt. Wir atmen aus und schenken unser Inneres in die Welt hinaus.

Im Sanskrit wird die Seele "Atma" genannt, von woher unser "Atmen" kommt. Im Turm der Nase sehen wir aber auch eine Garbe geschnittenen Weizens. In der "Atma", in unserer ewigen Seele, ruht auch das Schnittmuster unserer Einzigartigkeit. Im Leben, im Einatmen und Ausatmen, werden wir uns selbst geschenkt.

 

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Die Vertreibung aus dem Paradies

 

Auf dem zweiten Bild befinden wir uns im Paradies, am Ort des behüteten Glückes, dargestellt als ein mit starken Mauern umfriedeter Garten. Darin die zwei Bäume: der Baum des Lebens auf der rechten Seite und der Baum des Wissens auf der linken Seite. Am Baum des Wissens steht der Mensch, als Männliches und Weibliches in einem. Unsere nur-äusserliche Sicht hört nun auf die Schlange, die mit dem Versprechen verführt, kausal - begreifbar und logisch also - bewerten und beurteilen zu können.

Dadurch wird der Mensch aus dem Paradies vertrieben. Der Schatten dieses Geschehens mit der Schlange kriecht aus dem Paradies in unsere Welt hinein, und jeder Mensch, der sich an die Schemen dieses Schattens hält, kriecht mit.

Gibt es für uns keine Chance, mit dem Baum vom Leben im Paradies zu bleiben? Es heisst, dass die beiden Bäume in ihren Wurzeln verbunden sind. Auch wenn der Baum des Wissens vom behüteten Glück wegführt, so sind wir in unserer Verborgenheit doch immer mit dem Baum des Lebens verbunden.

In der Mitte ist ein Tor, dort, wo auf dem letzten Bild der Turm der Nase sich befand. Das Tor des Garten Edens öffnet sich wie das Atmen der Nase beiden Seiten - es führt hinaus und führt hinein. Es führt also auch wieder hinein in den Garten unseres Glücks, und dies nicht nur bei unserem Tod, sondern in jeder Gegenwart.

Wir sehen aber im Tor auch diese Garbe, den geschnittenen Weizen. Sie ist das Zeichen des Durchganges. Die Beschneidung des Wissenwollens, die Beschneidung des Wollens überhaupt, um zurückhaltend sein zu können und dem Anderen in der Begegnung Raum und Zeit zu lassen: dies könnte uns in den Garten blühender Beziehung und blühender Kultur zurückführen.

Wir kennen dieses Bild der Beschneidung aus dem jüdischen Brauch, und sie wird dort am achten Tag, am Tag der ewigen Einzigartigkeit vollzogen. Wir sollten dieses Bild nicht zu äusserlich sehen; das wäre doch der Baum des Wissens. In unserem unantastbaren Kern ist dieses "Tor zurück" zu finden.

 
Der nackte Baum

 

Ausserhalb des Paradieses steht der Mensch allein. Er hat sein ewiges Kleid der Einheit getauscht mit einem Fell aus einer Vielheit von Haaren. Er ist nackt und ausgesetzt den Unbilden der Zeit. Seine Haut verliert die harten Borsten und wird immer mehr zu einer Borke. Der Mensch ist ein Baum, und er trägt die zwei Bäume aus dem Paradies mit sich als Alternative in jeder Gegenwart. Die Wurzeln der beiden Bäume werden auf dem Bild zu seinen Händen, die Stämme zu den Armen und das Tor zu seinem Herz.

Die Frage lautet nun für ihn: "Wo bringe ich die Verbindung zustande, wie bringe ich meine beiden Hände zu verbindlichem Tun zusammen?" Aber nicht nur die eigenen Hände; das ist für die stillen Stunden des Gebets. Die beiden Hände sind ja bereits verbunden - ganz strukturell in seinem Körper, doch lebendig dann im Herzen, dem atmenden Tor zum Paradies. Verbindliches Tun wäre doch die ausgestreckte Hand, die eine Andere hält.

Verbindliches Tun bedeutet aber auch, dass das äussere Handeln mit einer inneren Haltung verbunden ist. Diese Haltung ist die Ethik, der Schutz des Zusammenwachsens. Ethik ist wie der Stamm mit seiner Borke, stark und aufrecht. Wie der Stamm ist die Ethik aber auch nicht selber schöpferisch - wie die Wurzeln - und trägt für sich allein auch keine Früchte - wie die Baumkrone. Doch sie schützt als Tradition und Überlieferung - als Stammbaum also - das Zusammenwachsen und Zusammensein.

Das Kleid, das dem Menschen in den Geschichten seiner Tradition vererbt wird, ist nicht sein eigenes, doch ist es der Ausgangsstoff, in den sich das Eigene weben kann. Es ist der Stoff, der zum Schutz wird für die Nacktheit des Menschen, zu den wärmenden und schützenden Kleidern. Ist das nicht Kultur, diese fliessenden Gewänder, diese Tücher aus gewirkten Fäden, die uns mit dem Leben und der Welt verbinden?

 

 
Kain und Abel

 

Auf dem Bild sehen wir auf der rechten Seite, der Seite des Baumes des Lebens, Abel, wie er sein Opfer darbringt und wie der Duft seiner Hingabe aufrichtig in den Himmel steigt. In der Rauchsäule erkennen wir ganz zart die Gestalt seines Gesichtes, das als Ausdruck seines Wesens Erde und Himmel verbindet.

Auf der linken Seite, der Seite des Baumes des Wissens, erkennen wir Kain. Der Rauch seines Opfers bleibt an der Erde hängen. Sein Name Kain bedeutet "Kaufen, Leistung"; die Verbindung mit dem Himmel, dem eigenen unbegreiflichen Geheimnis, lässt sich nicht mit Leistung erkaufen.

Die Haltung von Abel bedeutet im Menschen die Annahme seiner Selbst als Geschenk. Sein Opfern ist Dankbarkeit und das Teilenwollen dieses Geschenkes. Die Haltung Kains betrachtet das Geschenk als sein eigenes Verdienst und eigenes Vermögen. Er ist der hitzige Woller und eifersüchtige Wächter gegenüber der heiteren und absichtslosen Gelassenheit des Abels.

Auch Kain als Wille, Antrieb und Lebensfeuer gehört zum Menschen. Doch wenn er es nicht ertragen kann, dass er ohne seinen Bruder Abel keine Verbindung zustande bringt, dann kommt es zu der Katastrophe. Das Leben verbrennt sich selber in Wille und Wahn. Kain ergreift den Kirchturm im Dorf, seine grosse Sehnsucht nach Versöhnung, doch ergreift er ihn als Dolch und kehrt sich gegen Abel. Somit wird alles verdreht, unwahr, schliesslich tot. Er wendet sich nicht zu Abel, um sich mit ihm zu verbünden und so zu einem verbindlichen Tun zu kommen; er wendet sich zu ihm der Vernichtung wegen. Denn für ihn gilt: das Geschenk darf nicht sein, alles muss erleistet werden.

Das Wort Welt bedeutet "das Wachsen des Menschen". Jedes Wachsen braucht aber Pflege und Schutz. Kultur ist die Pflege des menschlichen Wachsens und Ethik ist sein Schutz. Das Mühlrad - Kains Gesicht - ist zwar der Antrieb für die Kultur des Menschen, aber erst mit Abel zusammen, der Stille und Geduld, der Offenheit zum verborgenen Wesen hin, kann Kultur vollzogen werden.

 

 
Geburt in die eigene Zeit

 

Das Bild beschreibt die Geburt Jesu. Maria und Josef stehen da, und Maria säugt das Kind mit der Nahrung von der Seite des Baumes des Lebens, mit der Nahrung Abels. Jesus ist der König der Welt. Aber auch in jedem Menschen ist Jesus ein Gleichnis der Einzigartigkeit, des Königseins im Leben. Hier geschieht also die Geburt des Eigenen.

Auf der linken oberen Seite erkennen wir die drei Weisen aus dem Morgenland. Sie sind doch Sternendeuter, die das Schnittmuster des Schicksals zu lesen suchen. Sie nähern sich dem neu geborenen Eigenen auf dem Weg der Zeit und bringen ihm Geschenke mit. Das Schicksal des Menschen ist für das Eigene, das unbegreifliche Geheimnis da - und nicht umgekehrt. Das Schicksal und seine weisen Deuter bringen dem Geheimnis ihre Geschenke dar und dienen ihm. Und doch wird das Eigene im Leben durch die Beschäftigung mit der Welt erkannt; der Stern von Bethlehem führt zu ihm hin.

Das Eigene, hier im Bild des Jesuskindes, verbindet die Wurzeln der beiden Bäume, verbindet die zwei Hände und die beiden Opfergaben. Doch das Kind ist noch ganz schwach, abhängig von Pflege und Schutz - wie die Kultur. Und gerade von dort her, von den drei Weisen aus dem Morgenland, der Wiege der Kultur, müssen ihm Geschenke kommen, so dass das zarte Gewächs zum Blühen kommt.

Die drei Weisen, die Vertreter der schon gewachsenen Kultur, müssen ihre Paläste verlassen, um dem Neuen Schutz und Dienst zu bieten. Denn das Neue wird in die Zeit geboren, wo der Fluss schon fliesst, und das Neue kann den Lauf der Dinge stören. Den Herodes stört es sehr, und er will - dem Kaine gleich - das zarte, schwache Kind ermorden.

In der Kultur, aber auch im Menschen selbst kommen immer wieder neue Phasen, die neues Leben, neues Geheimnis bringen. Und alles hat seine eigene Zeit: das Wachsen, Reifen, Sterben und auch das Stillesein wie im Bilde der vier Jahreszeiten. Ein Kind ist solchem Wandel hingegeben, denn es hofft, dass dieses Wachsen, Reifen, Sterben sein Eigenes entfaltet.

 

 
Pieta

 

Das Kleid des Menschen, das Kleid der Welt ist manchmal bitter. Maria, die Bittere, ist auf diesem Bild auf der linken Seite des Zeitflusses, und sie hält den gekreuzigten Jesus in den Armen. Sie heisst doch "mater dolorosa", die leidende Mutter, aber auch die leidende Welt. Sie trägt das Kind, das derart hoffnungsfroh in die Zeit gekommen ist, in der Trauer der Vergänglichkeit.

Der Weizen ist geschnitten, und Grabkreuze füllen dieses Feld, das einst so fruchtbar war. Auf der rechten Seite sehen wir den Baum, dessen Rinde tiefe Risse zeigt. Borken wurde aufgerissen, tiefe Wunden in sein lebendiges Fleisch geschnitten. Kein Schutz, kein Turm, keine Mauer konnten dieses Leid verhindern. Sie barsten unter dem ungezügelten Willen des Kains in der Verkleidung eines Führers.

Das Eigene, das unantastbar verborgene Geheimnis des Menschen, scheint untergegangen zu sein. Doch es schenkt uns in diesem Tod das grösste Geheimnis des Menschen, dass nämlich Glück und Schmerz des Einzigartigseins zu einem anderen hinweist, das dann dieses Eigene erst erfüllt.

Jesus bildet durch seinen Schmerz das Reich Gottes in der Auferstehung; jeder Mensch aber bildet im Schmerz, den er in der Begrenzung auf die eigene Identität erlebt, die Gemeinschaft der Kultur. Nicht die Weggabe des eigenen Lebens, sondern sein mutiges und aufrechtes Wagnis ist der Urgrund der Kultur.

Ein Unternehmer, ein Künstler, ja jeder Mensch kann sein ganzes Vermögen wagen, und doch bräuchte er - wenn er nicht zum mordenden Kain werden will - den Abel, die Hinnahme des Geschenkes und die Zurückhaltung dem Anderen gegenüber.

Die Trauer um den Untergang, um den Tod und um das Scheitern könnte dem Menschen die Erfahrung bringen, dass nur die Versöhnung von Kain und Abel, dass nur ein Begriff von Kain und Abel die Kultur uns schenkt.

 
Das Buch des Lebens

 

Kultur bedeutet eigentlich, dass wir der Welt Geschichten erzählen über ihr Wesen. Darin erkennen wir uns selbst, aber nicht nur uns, sondern auch das Geheimnis der Verbundenheit, die wir mit der Welt empfinden und mit den Menschen überall.

Die Königin der Welt in ihren farbigen Gewändern steht da und hört dem Menschen zu, wie er von ihr spricht. Er hält das Buch des Lebens in der Hand, in dem die Geschichten stehen, geerntet und geschnitten für die Mahlzeit am gemeinsamen Tisch. Im Buch, am Ort des Buches auf dem Bild, war doch schon der Turm der Nase, das Atmen der Einzigartigkeit; war auch das Tor zum Paradies und das Herz des Menschen; war die Drohung im Totenkopf des Brudermordes, war das fruchtbare Weizenfeld und dann das Feld des Unterganges. All dies taucht in den Geschichten an die Welt nun auf, aber eigentlich nur dann, wenn wir ihnen unsere Stimme leihen. Wir sitzen mit dem Rücken angelehnt an den Baum des Lebens, sehen ihn zwar nicht, doch empfinden die Verbindung, die er schafft zwischen Himmel und Erde.

Das Erzählen schmückt das wundervolle Kleid der Welt mit den Stoffen unseres Lebens. Es ist das Zusammensein am siebten Tag, am Sonntag, am Tag der Ruhe, wenn das Leistenmüssen schweigt. Das Feld ist bereits geschnitten, und wir kehren ein, um Leid und Freud zu teilen im verbindlichen Gespräch, das das Geheimnis wahrt und zum Erblühen bringt.

 Auf dem achten Bild sitzt der Mensch am Fluss des Lebens, und er hält seine Hände in ihn hinein, ohne zu wissen, was da zu ihm treibt. Das Gewand der Welt ist dieser Fluss, und doch aus einem Stoff der Ewigkeit. Die Garben seiner Einzigartigkeit stehen geerntet und gebündelt auf dem Feld. Das Korn wird bereits gemahlen in der Mühle, dort hinten bei der Stadt. Vom Mühlrad kommt das wahre Kleid des Menschen, das dieser mit seinen Händen hebt wie einen Schatz und freudig an sich nimmt.

 

 

 

 
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Daniel Ambühl und Thomas Primas
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