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      Es war
      einmal ein Volk, in welchem ein Mann lebte, der ohne Unterbruch vollkommen
      neue Dinge erfand und hervorbrachte. Jeden Tag überraschte er das Volk
      von neuem mit ganz neuen Dingen. Jeden Tag war das Volk erneut neugierig,
      was der Mann wieder Neues hervorbrächte und der Mann galt dem Volk
      deshalb als Genie und war berühmt.
      
       
      Eines
      Tages gelangte aus der Ferne ein Reisender in dieses Land; zu diesem Volk;
      und man führte ihn natürlich sofort zum Genie der Neuigkeiten. Als der
      Reisende mit der Volksschar vor der Hütte des Genies ankam, hockte dieser
      am Boden und knetete aus  einem
      Lehmklumpen ein Gefäss. Was ist das? fragte ihn erhrfurchtsvoll die
      Volksmenge. Das Genie antwortete: Es ist ein Topf. Sogleich
      klatschte das Volk begeistert in die Hände, fiel vor dem Genie auf den
      Boden. Sehen Sie, wandten sich die Umstehenden zum Reisenden: Das
      ist völlig neu! Das Genie hat etwas ganz Neues gemacht, etwas, das Topf
      heisst! Heil Dir, Schöpfer des Neuen, rief das Volk und tanzte
      vor Freude. 
      Als der
      Reisende am nächsten Morgen auf der Strasse spazierte, fragte ihn das
      Volk, wer er sei und er antwortete, er sei der Reisende, der gestern
      angekommen sei. Das Volk war sehr verwundert und sprach zu ihm: Nun
      werden wir Ihnen einmal etwas ganz Neues zeigen. Es wurde ein Zug
      gebildet und der Reisende ging mit. Wieder kam man beim Genie der
      Neuigkeiten an, wieder hockte dieser Mann am Boden und knetete aus einem
      Klumpen Lehm ein Gefäss, wieder erklärte er, das sei ein Topf, das Volk
      fiel erneut in Trance und rief: Ein Topf! Er hat den Topf erfunden!
      Heil Dir Schöpfer des Neuen! Nun war der Reisende verwundert und als
      man ihn fragte, weshalb er nicht mitjuble, antwortete er: Er hat doch
      gestern einen Topf gemacht! Das Volk aber lachte nur und fragte:
      Gestern? So entstand die Kunst der Neuzeit: aus Vergesslichkeit.
      
       
      Ein
      anderes Beispiel: Kürzlich las ich in einer Postille, ein ultramoderner Künstler
      hätte jeden Tag seine Exkremente in Plastikfolie eingeschweisst und diese
      Kunstsammlung in einem Museum für Gegenwartskunst ausstellen dürfen.
      Nun aber verklagte dieses Genie den ehrwürdigen Musentempel auf eine
      Viertelmillion Mark Schadenersatz, weil beim Einrichten der Kunstschau
      einer der Scheissbeutel geplatzt war und sei Inhalt verloren ging. Kunst
      ist eben Geschmacksache. 
      Erinnern Sie sich noch an Joseph Beuys mit seinen Fettecken? Oder
      Marcel Duchamps, der einen Flaschentrockner zum Kunstwerk erklärte?
      Durchbrüche in der Kunstgeschichte sollen das gewesen sein? Etwas ganz
      Neues? Wer hat in Frankfurt reiche Händler um ein Vermögen betrogen,
      indem er ihnen kleine Kotkügelchen als Prophetenbeeren verkaufte?
      Eulenspiegel! In Historie 35. 
      Und wer hat dem Landgrafen von Hessen für eine Unsumme ein riesiges Gemälde
      über die Herkunft seiner Familie verkauft; eine leere, weisse Leinwand
      wohlgemerkt? Eulenspiegel! In Historie 27. Der Graf und sein Gesinde
      wollten nicht zugeben, dass auf dem weissen Tableau nichts drauf war, denn
      ich hatte zuvor erklärt: Wer das Gemälde beschaut und nicht ehelich
      geboren ist, der kann mein Gemälde nicht sehen. Andächtig standen die
      hohen Herren vor dem leeren Tuch und schwärmten, was sie da alles sähen! 
      Die
      Vergesslichkeit zeichnet den Doofen aus, weil er meint, alles, was er
      erlebe, sei völlig neu. Das Gefühl des wundervollen Fortschritts, das
      den Dummen begeistert, war schon immer nur eine Folge rasanten Gedächtnischwundes. 
      In der
      Neuzeit, in der Sie jetzt leben, und in der alles immer so wahnsinig neu
      ist, da fehlt es an Erinnerung. Diese Vergesslichkeit hat System: Die
      Erinnerung bedroht nämlich die Begeisterung für das Neue. Die Erinnerung
      bedroht den Fortschritt! 
      Glauben
      Sie bloss nicht, dass man überall Denkmäler aufstellt, damit man nicht
      vergisst, was einmal war. Im Gegenteil: Man stellt diese Denkmäler auf,
      damit man endlich vergessen kann, was einmal war und man sich wieder dem
      Besöffnis der News widmen kann. Man lagert all seine Daten und
      Erinnerungen so hektisch auf Computer und Photos aus, damit man nicht mehr
      an sie denken muss. Für viele ist deshalb ein Geschehen heute nur noch
      eine Neuigkeit, die zur Zerstreuung dient. Und für viele ist deshalb
      heute der Holocaust nur ein Denkmal, das so heisst. Angesichts dieser Lage
      ist es deshalb ganz klug, wenn diese Holocaust-Denkmäler schrecklich und
      grauenhaft aussehen, damit die Besucher auf die Frage Und? Wie hat
      ihnen der Holocaust gefallen? nicht plötzlich antworten: Ganz hübsch.
      Interessant. Mal was Neues. 
        Dieser Text von Daniel
        Ambühl erschien als Kolumne während des Bildwegs in der "neuen
        braunschweiger"
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