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Daniel Ambühl  Bildweg  Braunschweig   Dokumente

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x Till Eulenspiegels Hochzeit

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Erzählung zum Bildweg in Braunschweig

 

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XInhalt

Einleitung  >

1.  Der Spiegel 
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2.  Die Eule 
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3.  Das Pferd 
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4.  Der Rauch 
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5.  Das Kind 
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6.  Die Maske 
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7.  Die Suppe 
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Einleitung

Es ist viel über mich, Till Eulenspiegel, geschrieben worden.Viel Falsches auch. Oder sagen wir: Es wurde Ausgewähltes von dem berichtet, was ich im Leben tat, vor allem meine derben Streiche und die knalligen, drastischen Geschichten. Es war damals im 14. Jahrhundert nicht anders als heute. Kaum hatten die Menschen die Druckmaschinen erfunden, schon ging es los mit dem Medienrummel. Ich war der erste grosse deutsche Volksnarr, der erste jedenfalls, der in den damals neuen Druckmedien wirklich gross herauskam. Viele folgten mir nach. Es ist müssig zu betonen, dass es noch nie jemandem etwas genützt hat, der Erste zu sein. Ich war nämlich nicht der, der seine drögen Streiche im Auftrag einer Zeitung, des Radios, Fernsehens oder einer Partei verübte, wie mir das heute von Leuten, die sich meiner Zunft zugehörig bezeichnen, üblich scheint. Nicht dass sie meinen, ich missgönnte meinen Nachäffern ihre monetäre Glückseligkeit. Es ist modern, mit dem Abbau der Echtheit Kohle zu scheffeln. Ausserdem: Hätte ich zu meiner Zeit mit meinem Unfug massig Geld verdienen können, ich hätte bestimmt nie daran gedacht, damit aufzuhören. Ja, ich dachte immer wieder daran aufzuhören, aber es ging nicht. Mein Schicksal war dasjenige, ein menschlicher Prototyp zu sein. Noch etwas verfrüht für den Zeitgeist, ein noch leicht unrealistischer, leicht verrückter Lebensentwurf zu der Zunft der Gottschalks, Ottos, Lippes, Schmidts und Kohls und Gisis und Kirchs, der damals zwar erwünscht, aber als nicht realisierbar galt. Mir ging es wie allen grossen Künstlern: Während man zu meinen Lebzeiten über mich stritt, lobredete und fluchte, ich sei ein Nichtsnutz, Strauchritter, Dieb, Psychopath, Tunichtgut usw., entpuppte sich der Stil meiner Untaten posthum als wahrer Segen für die Menschheit, vor allem für die Legionen meiner Nachahmer mit Geschäftssinn, für die Drucker, Buchhändler und Agenten. Und dies war doch nur deshalb möglich, weil seltsamerweise - kaum war ich tot - im Volk ein unbändiges Bedürfnis nach mir entstand. Mir scheint sogar - wenn Sie mir diese persönliche Bemerkung erlauben - es gibt heute mehr denn je eine ungebrochene Nachfrage nach Nichtsnutzen, Strauchrittern, Dieben, Psychopathen und Tunichtguts. Und das Angebot ist entsprechend.

Über den Ort, wo ich jetzt weile, kann ich Ihnen nichts Genaueres berichten. Schweigepflicht. Aber sie würden sich krummlachen, wenn Sie wüssten, wo ich bin. Wahrscheinlich würden Sie mir auch nicht glauben, dass ich Till Eulenspiegel bin, wenn sie mich sähen. Vielleicht haben sie mich schon gesehen, aber niemals an mich gedacht. Eigentlich wollte ich diese sieben Kupferplatten für den Bildweg in Braunschweig in einer gigantisches Show den heutigen Bewohnern übergeben. Ich hatte eine wirklich gute Show konzipiert, eine Parodie auf Moses mit den zwei Steinplatten. Stellen Sie sich vor - weil wir doch hier in Braunschweig keinen Berg Sinai haben -, am bleiernen Marienbrunnen mitten auf dem Altstadtmarkt fliegt plötzlich der höchste Aufsatz weg, und ich steige oben, umhüllt von Rauch und Nebel, wie aus einem dreistöckigen Hochzeitskuchen. Natürlich würden die paar Biertrinker im Gartencafe nebenan zuerst leicht zusammenzucken, sich verwundert die Augen reiben. Die Passanten auf dem Platz würden im ersten Augenblick vielleicht ihre Schritte ein wenig verlangsamen, und eine merkwürdige Stimmung würde von diesen Augenzeugen Besitz ergreifen. Es stimmte etwas nicht. Nicht, weil ich da aus der obersten Brunnenschale stiege, nicht, weil diese Show so eigenartig aussähe. Daran hatte man sich längst gewöhnt. Es war beunruhigend, dass kein Fernsehteam in der Nähe zu sehen war, niemand Geld einsammelte, und diese Show nicht angekündigt worden war in den Medien. Wie kann sich aber etwas ereignen, wenn es nicht zuvor schon in den Medien angekündigt war? Darf es sich denn überhaupt ereignen? Früher war es so, dass die Medien Ereignisse brauchten, denen sie sich widmen konnten. Heute ist es aber Mode geworden zu meinen, dass das Ereignis die Erlaubnis der Medien benötigt, damit es überhaupt geschehen darf.

Noch eine andere Geschichte hatte ich für meinen Auftritt ersonnen, diejenige, dass ich dem Künstler, der zu einer einsamen Kanufahrt auf dem linken Umflutgraben aufgebrochen war, in der Form eines bunten Schwanes erschien. Da hätte ich mich ihm offenbart, ihm den vorliegenden Text diktiert und ihm die Kupferplatten übergeben. Früher, als es noch nicht so viele arbeitslose Sekretärinnen gab, hat man mit dieser Behauptung eines göttlichen Diktats noch viele Leute tief beeindruckt. Eine naheliegende Sache: Gott darf doch auch Analphabet sein, wenn man selber einer ist? Da ich aber heute Lesen und Schreiben kann, brauche ich meine klugen Sprüche nicht erst mühsam jemandem zu diktieren. Ich schreibe sie einfach selber auf.
Kurz und gut: Hier, wo ich jetzt bin, liebt man es nicht, auf billige Hollywoodart die Menschen zu unterhalten. Man liebt hier Diskretion. Es gibt andere, verborgene Wege, wie wir von hier aus mit ihnen im Gespräch bleiben. Ich habe also die sieben Kupferplatten einfach abgeliefert, man hat sie in die Bildsäulen montiert. Mein Text wurde korrigiert und als Heft gedruckt. Das ist alles. Machen sie daraus aber bitte keine Glaubensfrage!

 

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Der Spiegel

Als ich einst nach einem üblen Scherz aus Braunschweig verjagt wurde und beim Einbruch der Nacht in die umliegenden sumpfigen Wälder floh, sah ich mitten in diesem unwirtlichen, verwirrlichen Dickicht plötzlich zwischen den Stämmen der Moorbirken hindurch in der Ferne ein bläulich-grünes Licht flackern. Es war ein merkwürdiges Haus, und ich näherte mich ihm. Es sah aus wie ein Kiosk. Es stand in einer Lichtung und war über und über behangen mit purer Begeisterung, mit bunten Bildern, knalligen, farbigen Lettern, hochglänzenden Frauen, schicken Motoren, attraktiven Dramen. Beleuchtet war die Szenerie von einer riesigen Zahl Sechs, die, aus bläulich fluoreszierender und nach Erdbeeraroma riechender Schokolade gegossen, vom Dachfirst herunter strahlte. Es war zweifellos ein Hexenhaus, und in der Mitte, hinter der Auslage, sass eine hübsche, junge Frau. "Na, schau an," begrüsste mich die blonde Miss, "der Herr Eulenspiegel!" Der Klang ihrer Stimme durchfuhr mich bis in die letzte Haarwurzel: Ich hatte mich soeben in eine Hexe verliebt. Gebannt schlug ich mein Lager vor diesem Kiosk auf und labte mich an ihrer Auslage. Ich frass mich halb zu Tode an ihrem Lebkuchenhaus, nur um in ihrer Nähe zu sein. Doch eines Tages, als sie mich schliesslich in ihr Haus einliess, erwachte ich aus meinen schwülstigen Phantasien. Meine schöne Miss war unten herum, also unterhalb der Gürtelgrenze, ein Geier, mit blutigen, stinkenden Federn und grässlichen, langen ungepflegten Krallen an gelben, schuppigen, knorpeligen Beinen. Ein Drache! Nur was oben über die Auslage zu sehen war, war anmutig, wohlgeformt und sexy. Ich fürchtete um mein Leben und ergriff die Flucht. Doch der Fluch der Hexe erreichte mein Ohr, als ich davonrannte: "Du jämmerlicher Angsthase!", rief sie mir nach, "Du wirst ein Frosch sein, ein Frosch, ein Frosch... Ha ha ha!" Ich rannte um mein Leben. In sicherer Entfernung machte ich Halt, japste nach Luft und nahm dann zitternd meinen Spiegel hervor, um zu sehen, ob der Fluch an mir seine Wirkung getan habe. Ich war ganz erleichtert festzustellen, dass ich mein vertrautes Gesicht erkannte. Ich war es, Till Eulenspiegel, wie eh und je. Und ich war stolz, dies zu bemerken. Hat man je von einem gehört, der gegen den Fluch einer Hexe immun war? Ja, ich hatte die Hexe besiegt. Nicht ganz, allerdings: Ihr Oberteil ging mir nämlich nicht aus dem Sinn. Und in meiner Phantasie ergänzte ich ihr wüstes Unterteil nach meinem Belieben und war so in Gedanken oft mit ihr zusammen.

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Die Eule

Einige Zeit später kam ich wieder nach Braunschweig. Die Leute hatten ihren Groll gegen mich verwunden, und ich konnte mich wieder zeigen. Oder anders gesagt: Es waren schlimmere, anonymere Katastrophen über die Menschen hereingebrochen, Unfassbare Katastrophen, in deren Licht ich den Menschen geradezu belustigend harmlos erschien. So spazierte ich also unbehelligt vom Bäckerklint die Breite Strasse hinunter zum Kohlmarkt. Als ich da ankam, sah ich zu meiner grossen Verwunderung am Brunnen stehend eine Frau mit einem Gesicht, das mir wohlbekannt schien. Ich kannte dieses blonde, gewellte Haar, diesen sanften Schwung im Oberkörper, die Anmut der Gestalt, wie sie über den Brunnenrand gebeugt Kleidungsstücke wringte. Es war: Die Hexe. Aber es war nicht die wirkliche Hexe. Nicht diejenige vom Kiosk. Nein. Es war meine Traumhexe, diejenige, die ich unten herum in meinen Vorstellungen ergänzt hatte. Das Mädchen, das da in der lauten Frauenschar am Brunnen wusch, war diejenige, die ich mir vorgestellt hatte. Ich konnte es ganz genau sehen. Sie ging barfuss, hatte wohlgebildete Füsse, sorgsam geschnittene, ebenmässige Zehennägel und herrliche Fesseln. Eine ganze Weile betrachtete ich die Szene der fröhlichen Waschweiber aus einiger Entfernung. Dann fasste ich Mut und trat zu den Frauen, die heiter und angeregt in Gespräche und Scherze vertieft waren. Als ich jedoch meine Traumfrau ansprechen wollte, schrie diese reflexartig: "Pfui, ein ekliger Frosch!" und trat mit den Füssen nach mir. Die anderen Frauen brachen in Gelächter: "Was siehst Du?", fragten sie ihre Mitwäscherin, "Einen Frosch? Das ist doch Till Eulenspiegel!"
"Ein Frosch ist es," wiederholte sie entnervt: "Ein hässlicher grüner Frosch. Hinweg mit Dir, du ekliges Ding!" Dabei trat sie mich mit ihrem Knie in den Unterleib, so dass ich unter dem Gekicher der Frauen vor Schmerz gebeugt und wie ein geprügelter Hund davonhumpelte.
Auf einer Bank unter den Bäumen kauerte ich nieder. "Faszinierend!", hörte ich es flüstern. Es war die Eule, die auf meiner Schulter sass. Ich schaute sie gequält und fragend an. "Faszinierend!", wiederholte die Eule mit respektvollem Kopfnicken, "ganz aussergewöhnlich kunstvoll, dieser Fluch der Hexe!" Nach einer bedeutungsschweren Pause fixierte mich die Eule mit ihrem scharfen Blick: "Till Eulenspiegel, Du bist verliebt in Deine Vorstellung!" Ich sprang auf und schrie meine Eule an: "Was heisst hier ‚Vorstellung'? Hast Du sie nicht gesehen in Fleisch und Blut?" "Eben!", antwortete die Eule, und es dämmerte mir erst viel später, was dieses "Eben" bedeutete. Ich war für dieses Mädchen, für meine Liebste, meine Angebetete, die ich zur Frau begehrte, ein Frosch. Für alle anderen war ich Till Eulenspiegel, wenigstens ein Mensch, wenn auch ein Narr, ein Mann eben. Aber für diese Frau, in die ich hoffnungslos und verzweifelt verliebt war, war ich einfach nur ein ekliger Frosch. Es war ein wirklich ganz hinterhältiger, gemeiner Fluch, der mich getroffen hatte. Und es nützte mir nichts, in den Spiegel zu schauen und zu sagen: "Es stimmt doch nicht. Ich seh mich da doch." Ich war deprimiert und niedergeschlagen und strafte deshalb mit meinen dummen Scherzen die ganze Bevölkerung für den Frust in meiner Brust. Ja, ich begann, dieses störrische Mädchen konsequent zu hassen dafür, dass sie mich derart schroff ablehnte, während ich gleichzeitig die Vorstellung, die ich von ihr in immer feineren Details entwickelte, immer mehr zu lieben und zu geniessen begann.

 
Das Pferd

Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass das Mädchen nicht nur mit mir Scherze trieb, sondern felsenfest überzeugt blieb, an meiner Stelle einen Frosch zu sehen, fasste ich in meiner verschmähten Liebesglut einen heimtückischen Plan. Ich wusste: Keine ruhige Sekunde wäre mir mehr vergönnt, solange meine Traumfrau, diejenige aus Fleisch und Blut, der Vorstellung, die ich von ihr hatte, widersprach. Ich war also für meine Liebe zum Äussersten entschlossen. Bald kam ich mir heldenhaft vor, bald hundelend. Ich war gekränkt! Es sollte zu meiner Heilung ein letzter Versuch unternommen sein, mein entscheidender Kampf.
Ich hatte mir meine Sache folgendermassen zurechtgelegt: "Sie ist doch", folgerte ich scharf, "alleine mit ihrer Meinung, ich sei ein Frosch. Also soll sie sich darin schicken, mit einem Frosch verheiratet zu sein. Mir soll es jedenfalls recht sein."
Ich borgte mir ein Pferd und stattete dem Vater des Mädchens einen Besuch ab. Der alte Mann war blind, lebte im Süden Braunschweigs ausserhalb der Stadtmauern als Gerber und war sehr beeindruckt vom Klang der Hufe meines geliehenen Pferdes. "Edler Ritter", begrüsste er mich, "was verschafft mir die Ehre Eures Besuchs?" Von oben herab antwortete ich ihm stolz: "Ich, Till von Kneitlingen, genannt Eulenspiegel, König der Narren, bin hier Eurer Tochter wegen, die ich zur Frau begehre!" "Grosser Gott", rief der blinde Mann aus: "Ein König! Verzeiht mir, dass ich das Volk der Narren nicht kenne. Ihr seit wohl von weit hergereist." "So ist es, ehrwürdiger Gerber. Die Narren sind ein mächtiges Volk im Norden. Sie beherrschen die Tiefebene des Fernsees und seiner weitverzweigten Kanäle, aber auch die eisigen Gletscherzungen des Alma-Mater-Gebirges. Wir pressen Worte zu Öl, heizen damit unsere Häuser und exportieren dieses Wortöl in alle Welt." "Donnerwetter!" Der blinde Mann geriet in helle Aufregung und liess sogleich seine Tochter kommen. Als diese mich sah, rief sie schon von weitem: "Schon wieder dieser eklige, widerliche Frosch. Nun hockt er auch noch auf einem Pferd!" Als ihr blinder Vater sie ermahnte, ihre Zunge zu hüten, erwiderte sie nur trotzig, sie werde mich niemals heiraten. Sie hätte ein Recht darauf, einen Mann zu heiraten, und müsse sich nicht mit einen Frosch begnügen, selbst dann nicht, wenn dieser Frosch auf einem Pferd angeritten oder mit einem Cabriolet dahergefahren käme. Ein Wort gab das andere, ein Geschrei entstand, und dieses lockte aus den umgebenden Hütten allmählich allerlei neugierigen Volks zusammen. Als eine rechte Menge versammelt war, ergriff ich das Wort und fragte vom Pferd herunter in die Runde: "Sagt Leute, wen seht Ihr hier?" Die Menge rief zurück. "Du bist doch Till Eulenspiegel, der Narr, bekannt aus Funk und Fernsehen, ein Star." Damit war der blinde Vater des Mädchens vollends überzeugt und sprach: "Meine Tochter, lass es nun Recht sein, und schick Dich in das, was die Menge sagt. Mag er für Dich auch ein Frosch sein; wenn er berühmt ist, wird er auch reich werden. Wenn er für ein Pferd sorgen kann, kann er es auch für eine Frau. Du sollst ihn heiraten!" Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Das Mädchen gab nun entgegen meinen Erwartungen nicht klein bei und fügte sich in ihr Schicksal, sondern blieb trotzig und standhaft dabei, dass sie einen Frosch nicht heiraten könne und lieber sterbe. Ob dies denn so schwierig zu verstehen sei, fragte sie. Es solle doch jeder in der Runde der Gaffer, der mit einem Frosch verheiratet sei, die Hand erheben. Es herrschte betretene Stille. Diese Rede erstaunte das umlagernde Volk, das in immer grösserer Zahl zusammenströmte. Man begann zu tuscheln: "Was sieht sie? Sieht sie wirklich einen Frosch? Was siehst denn Du? Es ist ein Mensch! Völlig klar. Sieht jeder Esel! Er ist es, Till Eulenspiegel. Ja, ein Mann. Zweifellos!" Und als sich der Pöbel nach langem Gemurmel schliesslich einig war und sich versichert hatte, dass sie alle in mir einen Menschen, einen Mann mit Namen Eulenspiegel sahen, tönte es plötzlich spitz aus der Masse hervor. "Das Mädchen ist nicht ganz normal." Und es kam von vielen Seiten ein Echo: "Nicht normal, Es ist krank. Es ist.. es ist ... - verhext ist es! Ja, verhext. Verhext. Eine Hexe. Eine Hexe!"
So scheiterte schliesslich mein letzter Versuch, das Glück zu zwingen. Das Mädchen wurde von der Meute dingfest gemacht, darauf zu Psychiatern geschickt, zu Therapeuten und allen möglichen Seelenquacksalbern, sie wurde kunstfertig und nach allen Regeln der Humanmedizin, der Sozialwissenschaften und des Exorzistentums gegen entsprechende Ablasszahlungen freundlich befragt, gequält und gefoltert. Ohne Erfolg allerdings. Sie blieb dabei, dass sie an meiner Stelle einen Frosch sähe. Schliesslich begnadigte man sie zur Verbrennung auf dem Scheiterhaufen. Es war eine Liveübertragung geplant.

 
Der Rauch

Ich weiss, was Sie jetzt denken: Sie denken, wenn ich dieses Mädchen, meine Traumfrau, wirklich geliebt hätte, hätte ich die Schmach ihrer Ablehung akzeptieren müssen. Aber ehrlich gesagt: Hab ich nicht ein Recht auf die Unversehrtheit meiner Vorstellung? Ich war dreissig Jahre unterwegs auf den Landstrassen, allein, geprügelt, verlacht, verstossen. Ich fand meine Angebetete, meine Vorstellung war Fleisch und Blut geworden, ich stand ihr plötzlich gegenüber. Diese aber wandte sich gegen mich, nicht nur gegen mich: Sie wandte sich dazu noch gegen die Vorstellung, die ich von ihr hatte und sagte, ich sei ein Frosch. Und sie sagte das nicht etwa als Kosewort: Fröschelein. Das ginge ja noch. Ja, ich hab den Fluch der Hexe auch gehört. Aber nun mal im Ernst: Glauben sie an Hexen? Ich habe meinen Spiegel dabei. Ich schaue hinein. Was sehe ich? Ich sehe mich. Keinen Frosch! Und ich frage alle Menschen ringsum. "Wen seht Ihr vor Euch?", und die Leute sagen alle: "Du bist Till Eulenspiegel, der Narr." Wie soll ich also akzeptieren können, wenn jemand kommt, der mir sagt, ich sei ein Frosch? Dazu noch meine Braut, meine zukünftige Frau, mein Glück? Was machen Sie, wenn das Glück es ablehnt und sich weigert, zu Ihnen zu kommen? Ich sage Ihnen, was ich dachte: Das Glück kann mir gestohlen bleiben. Das Mädchen, dieses trotzige Ding aus Fleisch und Blut, kann mir gestohlen bleiben. Sie will nicht zu meiner Vorstellung passen. Ja, in meiner Vorstellung hält sie zu mir, ist lieb, treu und artig. Ihre physische Gegenwart aber, dieses trotzige Ding, die gebärdet sich unerträglich. Ist sie nicht eine Hexe, die über mich lügt? Nicht ich bin besessen von meiner Vorstellung. Sie ist doch besessen! Von der Vorstellung nämlich, ich sei ein Frosch. Ich, Till Eulenspiegel! Es ist gefährlich, den Vorstellungen, welche die anderen von einem haben, nicht zu entsprechen. Ich weiss, wovon ich rede. Im übrigen kann ich nichts dafür, dass sie verbrannt wurde. Ich hab das so nicht gewollt. Die Menschenmenge hat das so gewollt, ihr eigener Vater auch, die Masse. Wer kann gegen die Masse etwas unternehmen? Ich mag ein Narr sein, aber kein Trottel! Also, liess ich die Masse machen. Mich erleichterte es sogar bis zu einem gewissen Grade. Endlich abzuschliessen mit dieser Unerträglichkeit der Ablehnung und Zurückweisung. Es war vielleicht die einzige Möglichkeit, meinen Fluch zu erlösen. Abgesehen davon: Ein einziges Wort hätte genügt, und sie wäre frei gewesen. Sie hätte nur sagen müssen, ich sei ein Mensch. War das zuviel verlangt?
Es gab die übliche Verbrennung auf dem Scheiterhaufen nach DIN und ISO 9001. Mit Wurstbuden, Bierausschank, schulfreier Nachmittag. Ein Sportreporter – da der Fernsehseelsorger gerade wegen homosexueller Verdächtigungen beurlaubt war - kommentierte: " .... und es ist faszinierend zu sehen, wie sich der schöne Körper in den Flammen windet und dehnt. Es ist, als wollte er uns zurufen: Eulenspiegel, was hast Du mir angetan? Kann ich etwas dafür, dass ich Dich als Frosch sehe? Noch immer! Verzeih ......." Es entwickelte sich aber starker Rauch, und man sah eigentlich nichts Klares ausser die Werbespots, die dazwischengeschaltet wurden. Es mottete und qualmte. Mir liefen deshalb schon früh die Augen über, und ich meinte folgendes zu sehen: Das Mädchen verschwand nicht. Es brannte zwar, ja es stand ganz in Flammen, aber es verbrannte nicht. Auch die Haare, jedes einzelne Haar brannte und blieb unversehrt. Die Hanfseile der Fesseln aber verkohlten in kürzester Zeit, und das Mädchen war frei. Es spazierte im Feuer umher. Dann kam plötzlich Wind auf. Er drückte den Rauch zu Boden, das ganze Publikum hustete und hatte vom stickigen Qualm Tränen in den Augen. Eine Böe trug schliesslich ein paar Funken weg, das Dach eines Tuchhändlers begann zu brennen, die Feuerwehr kam mit einem gigantischen Löschzug angerückt; es war ein heilloses Durcheinander. Mehr wurde verwüstet durch die Feuerwehr als durch das Feuer. Ein stattlicher Trümmerhaufen blieb übrig. Einige Leute behaupteten, als sich die Schwaden von Dampf und Staub verzogen hatten, sie hätten genau gesehen, wie die Hexe, die unselige, unbehelligt vom Scheiterhaufen heruntergestiegen und zum Kloster hinübergegangen sei, wo sie neu eingekleidet wurde. Das hätte sie gewundert. Wenngleich: Man traute den Klosterfrauen einiges zu. Andere widersprachen. Sie hätten die Hexe deutlich schreien gehört und verbrennen gesehen. Es wäre grauenhaft und markerschütternd gewesen, und man sähe doch noch die rauchenden verkohlten Fleischstücke und die Knochenstücke auf dem Blutgerüst. Es gab viel zu berichten, und jeder hatte es irgendwie anders gesehen. Man fand das ganz normal.

 

 
Das Kind

Es war Herbst geworden. Das Korn war geschnitten, der Most gepresst. Ich suchte in Braunschweig eine Stelle, um bequem zu überwintern. Man kannte mich aber schon, und es war deshalb nicht einfach, Unterschlupf zu finden. Auch war das Mitleid der Bürger und Zunftleute noch schläfrig, da es noch warm war draussen und man kein schlechtes Gewissen haben musste, dass ich auf offner Strasse erfröre. Ich wollte eben in eine andere Stadt weiterziehen und ging schon über die Brücke, als ich hörte, wie jemand meinen Namen rief: "Eulenspiegel." Es klang ungewohnt, weder nach einem Fluch noch nach Gespött. Erschreckend ernst. Eine Frau hatte gerufen, die ich nicht kannte. Sie winkte mich zu sich. "Kommen Sie mit!", und sie führte mich zu einem düsteren Pferdeschuppen. Als ich eingetreten war, erkannte ich im Halbdunkel stehend einen Pfaffen und den blinden Gerber mit einem Flechtkorb unter dem Arm. "Lesen Sie, Herr Priester", bat der Gerber den Pfaffen und streckte einen Zettel in seine Richtung. Der Pfaffe stubste verwundert mit dem Zeigefinger seine Brille zurecht, glättete umständlich das Papier und kniff die Augen zusammen: "Dieses Kind...", las er langsam vor und fuhr fort - während ich näher hinzutrat – "...ist von Till Eulenspiegel." Ich blieb wie angewurzelt stehen. In der Zwischenzeit hatte der blinde Gerber seinen Korb auf den Lehmboden gestellt, fuchtelte suchend nach dem Arm der Frau, die mich zum Schuppen geführt hatte, und so verschwanden die beiden schleunigst und liessen mich mit dem Pfaffen und dem Korb alleine.
"Um Himmels Willen...", sprach der Pfaffe, der mich nun vor sich stehen sah, "Eulenspiegel - Euer Kind!" Ich hatte unterdessen meine Fassung wieder gefunden: "Mein Kind?" erwiderte ich, "wie soll es mein Kind sein, wenn ich nie mit dieser Frau zusammen war?"
"Ist es denn schon getauft?", fragte der Pfaffe.
"Woher soll ich das wissen?", antwortete ich, "ich habe mit dem Kind nichts zu tun. Bringt es dem Gerber zurück, oder meinetwegen ins Waisenhaus."
Der Pfaffe aber liess so leicht nicht locker: "Aber", begann er vielwissend, "Ihr wart doch mit der Tochter des Gerbers in Eurer Vorstellung zusammen! Nicht wahr? Es ist ein Kind, das aus diesem Zusammensein in Eurer Vorstellung erwachsen ist!"
"Ihr wollt also behaupten", begann ich, "dass, wenn ich mit einer Frau in meiner Vorstellung oder im Traum zusammen bin, daraus richtige, wirkliche Kinder entstehen? Solche Kinder aus Fleisch und Blut, wie dieser rotköpfige Schreihals hier in diesem Korb?"
Der Pfaffe senkte den Kopf und äugte über die Brillengläser: "Ich will das nicht behaupten: Ich glaube das."
"Dann müsste ich wahrlich Vater sein von Legionen von Kindern", entgegenete ich, "und Ihr vielleicht auch. Ja, Ihr könntet dann auch Vater sein. Sogar als Priester. Oder wart ihr in Eurer Vorstellung noch nie mit einer Frau zusammen?"
"Wohl möglich", gestand der Pfaffe, "es heisst doch: Werdet wie die Kinder! Ja, nur Kinder können glauben. Weil man nur glauben kann, was man nicht verstehen kann! Nur das Unglaubliche kann man glauben!"
"Ja, wenn ich auch wie ihr Pfaffen fett würde von dem, was die anderen nicht verstehen, würde ich wohl auch so reden", spottete ich.
Da hob der Pfaffe das Papierstück vor mein Gesicht: "Wir haben hier aber auch diesen Zettel: Es ist Eulenspiegels Kind." "Eulenspiegel hat kein Kind", entgegnete ich.
"Deine Hartnäckigkeit verstehe ich nicht", bemerkte der Paffe. "Nicht nötig, dass Du sie verstehst" erwiderte ich, "dann kannst du sie wenigstens glauben!" Mit diesen Worten trat ich aus dem Pferdeschuppen und verliess Braunschweig. Das Kind kam ins Waisenhaus. Es wurde Winter.

 

 
Die Maske

Durch Schnee und Eis zog ich wieder landauf und landab, meine Spässe und Eitelkeiten treibend. Mal hier mal dort eine kurze Bleibe findend, aber nie ein wirkliches Dach über dem Kopf. Ich war betrunken, sooft ich es mir leisten konnte, wurde durch mein umtriebiges und unstetes Dasein zusehends berühmter, aber im selben Masse auch berüchtigter und einsamer. Mir war, als ginge ich hinter einer Maske her, die man lobte, grüsste, tadelte, prügelte. Dass gerade ich hinter gerade dieser Maske herlief, schien mir zufällig und willkürlich. Aber andere wussten auch nicht, weshalb gerade sie hinter der Maske des Bäckers, des Krämers oder des Pfaffen hergingen. Ich war mir egal geworden, Sklave einer aufgezwungenen Schminke. Erstmals in meinem Leben hatte ich das, was man Erfolg nannte. Vielleicht kam es daher, dass sich alles im Kreise drehte. Gleiche Scherze, gleiche Wirkungen. Wieder wurde ich verjagt aus Braunschweig, wieder floh ich in die Sümpfe im Westen - ich zählte meine Fluchten schon lange nicht mehr - wieder sah ich im Wald, und wieder zwischen den Moorbirken hindurch, und wieder in der Nacht, wieder dieses blaugrüne flackernde Licht, wieder in der Lichtung, wieder dieses Haus. Es war widerlich.
Als ich mich dem Haus näherte, erinnerte ich mich meines verpatzten Eheglücks, und Wut schäumte in mir auf: Nun wollte ich abrechnen mit der Hexe! Es war derselbe Lebkuchenkiosk, beklebt mit der gleichen, zuckrigen Begeisterung. Aber dahinter wartete nicht etwa die Hexe, nicht meine halbseitige Hübsche, nicht die Miss mit dem Geierunterleib. Nein, es sass dort eine Nonne, die in aller Seelenruhe hellblaue Babykleider strickte. "Komm nur näher, Frosch", sprach sie mich freundlich an, ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen. Ich aber war nicht versöhnlich gestimmt: "Schämst Du Dich nicht", herrschte ich sie an, "dich als Nonne zu verkleiden, Du Elende!" Sie aber schwieg und strickte weiter. Mutig trat ich näher zu ihr heran: "Du...", hob ich an, "...ausgerechnet du willst mich zum Narren halten? Mich, der ich der Erste bin, der Prototyp des neuen Menschen, der erste, neue Übermensch, der nicht mehr Narr eines Königs ist, nicht mehr Knecht eines Herrn, sondern selber König, der König der Narren, Herr der Herren, Knecht der Knechte!"
Meine Rede schien aber wenig Eindruck zu machen auf die Ordensfrau. Nach einer tödlichen Salve derbster Ausdrücke, die ich gemäss den modernsten Regeln der rhethorischen Kriegsführung gegen sie vorbrachte, war sie nicht im geringsten gereizt. Ob sie taub war? Die Nonne blieb ganz gelassen und heiter. Und als ich meinen vernichtenden Redeschwall einstellte, da erhob sie sich ruhig, zeigte mir das hellblaue Pulloverchen und fragte: "Gefällt es Dir, Fröschelein?"
Nun war ich es, der rasend wurde. Ich war bereit, den ganzen Erdkreis zu verwüsten, nur um dieses eine Haus, diese eine Lichtung, diesen Wald und dieses blaugrüne flackernde dämliche Kunstlicht mitsamt der Nonne, ihrem Babykleidchen und überhaupt allem, was in dieser Welt war, auszulöschen. Ich war eben daran, mit einer brennenden Fackel das Haus anzuzünden, als eine vertraute Stimme meine Raserei unterbrach: "Es scheint", sprach diese tiefe Stimme ruhig, "Du brauchst mich nicht mehr." Es war die Eule, die noch immer auf meiner Schulter sass und herablassend bemerkte: "Ich darf mich also verabschieden." "Du bleibst, wo Du bist!", schrie ich sie an. "Verzeihung", entgegnete die Eule, während sie aufflog, "aber bei einem Wahnsinnigen kann ich nicht bleiben." Und dann landete die Eule auf dem erhöhten Ast eines Baumes und schaute von dort wie von einem sicheren Logenplatz hinunter in die Arena der Lichtung, mit dem Haus und mit mir, mit der lodernden Fackel in der Hand. Einen kurzen Moment nur war ich aus meiner Rolle des Jähzornigen gefallen. In genau diesem Moment war die Nonne vor das Haus getreten. Ich hatte keine Ahnung, durch welche Türe sie gekommen war. Sie nahm mir, der ich verdutzt und ohne meinen Text dastand, die Fackel aus der Hand. "Du wirst doch wohl Dein Haus nicht anzünden wollen", sprach sie, "du Narr!", und löschte die Fackel in einem Regenfass. "Mein Haus?", rief ich ihr erstaunt nach. "Was heisst hier: Mein Haus?" Sie aber drehte sich bloss zu mir und sprach: "Du bist hungrig, komm rein, ich habe eine Suppe gekocht." Doch beim Wort Suppe dachte ich gleich an den Hexenkessel. Wären Sie unter solchen Umständen einfach eingetreten in dieses Haus?

 
Die Suppe

Wenn man glücklich ist, begegnet man manchmal schäbigen Dingen, die wirklich köstlich sind. Ganz selten allerdings. Auf merkwürdige Weise sind diese an sich schäbigen Dinge ins Köstliche verwandelt. Nicht, weil man verbissen und tapfer lange an ihnen hing oder blind an ihnen festklebte, sondern weil man vor ihnen geflohen war. Genauso verhielt es sich mit dieser Suppe. Sie schmeckte wirklich vorzüglich. Als Kind war ich vor solchen Suppen geflohen. Schon beim Anblick des Topfes hatte ich jeweils das Weite gesucht. Eigentlich haben damals alle Kinder, die mit mir zusammen im Waisenhaus lebten, nachts immer nur gebetet, dass sie eines Tages gross und kräftig genug würden, um endlich dieser schäbigen Brühe zu entkommen. Die Klosterfrauen aber sagten uns immer, wir müssten Suppe essen, um gross und stark zu werden.

Ja, ich bin auch im Waisenhaus aufgewachsen. Kein Grund, gleich zu Tränen gerührt zu sein. Viele Kinder wachsen heute mit ihren Eltern auf wie in einem Waisenhaus. Ich kannte also meine Eltern nicht und sie mich auch nicht. Das erste Waisenhaus in Braunschweig war 1245 gegründet worden, und ich war sozusagen einer ihrer ersten Klienten. Da ich - wie viele andere Zöglinge auch - nicht von Geburt aus stubenrein war, rief man in diesem Haus viele Kinder "Ulenspegel", was damals soviel hiess wie: den Hintern putzen. Aber auch: den Hintern versohlen. Was auch vorkam. Und nicht zu selten.
Heute schmeckt meine Suppe auch nach diesen Prügeln von damals; sie schmeckt schäbig, aber köstlich.
Ich erinnere mich, dass ich im Waisenhaus einen meiner ersten Streiche mit einem Mädchen spielte, das die schönsten, längsten und schwärzesten Haare besass. Ich hatte sie beim Mittagstisch gefragt, ob ich ihr vorführen dürfe, was das Umgekehrte sei des Ausdruckes "Ein Haar in der Suppe". Als sie eingewilligt hatte, schüttete ich die Suppe über sie mit den Worten: "Eine Suppe im Haar".
Auch danach schmeckt diese Suppe noch heute. Schäbig. Es war das einzige Mädchen, in welches ich vermutlich verliebt war. Und ich muss ihnen noch etwas gestehen: Ich war bis zu meinem Tode nie verheiratet. Aber, es ist noch alles offen!"

 

 

 

 
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