Aus Indien ist die Geschichte eines Meisters der Konzentration überliefert, der ein
herausragendes Buch der Liebe geschrieben hat, während im Nebenzimmer sein Sohn, ein
dreimonatiger Säugling, schrie. Das Buch ist leider verlorengegangen.
Wir wissen nicht, was Kunst ist. Kunst ist eine Annahme. Jeder
Mensch kann annehmen, ein bestimmter Gegenstand A sei Kunst. Der Gegenstand kann ein Bild
sein, eine Installation, aber auch ein Pullover, ein Stück Brot, ja selbst ein Klang kann
Kunst sein. Selbst ein Klang der nur einmal ertönte, nicht aufgenommen wurde sondern
tönte und verklang. Ein anderer Mensch hält gerade diesen Gegenstand A jedoch nicht für
Kunst, aber vielleicht einen anderen, nämlich den Gegenstand B, ein anderes Bild, ein
Motorrad, ein Buch. Viele Dinge können Kunst sein. Beiden Dingen aber, A und B, - das ist
simpelste Mengenlehre - ist gemeinsam, dass sie von einem Menschen als Kunst angenommen
und für Kunst gehalten werden. Sind damit beide Gegenstände Kunst und ist letztlich
alles Kunst?
Dasselbe gilt für Künstler. Wir wissen nicht wer ein Künstler
ist. Der eine sagt - und nimmt damit an - Herr X sei ein Künstler. Der andere nimmt an,
Frau Y sei eine Künstlerin. Gemeinsam ist Herrn X und Frau Y, dass jemand von ihnen
glaubt, er oder sie sei ein Künstler, eine Künstlerin. Ein dritter hält sich selbst
für einen Künstler. Wer möchte ihm widersprechen? Ist damit letztlich jeder ein
Künstler?
Meine persönliche Situation: Man hält mich mancherorts für einen
Künstler. Zum Beispiel wenn ich in einer Galerie vor meinen Bildern stehe. An der Kasse
bei Aldi hält man mich wahrscheinlich spontan für etwas anderes. Ein Kunde vielleicht.
Es sei denn man hätte mich in einer Zeitung abgebildet gesehen und dabei auch gelesen,
ich sei ein Künstler. Es sei denn man hätte mich dann auch in Wirklichkeit
wiedererkannt, als der, der in der Zeitung abgebildet war, oder es zumindest angenommen,
ich sei der. Und vorausgesetzt man hätte sich auch erinnert, in welchem Zusammenhang das
Bild stand. War das nun der Bankräuber, der Politiker oder der Künstler? So hätte man,
bei viel Aufmerksamkeit und gutem Gedächtnis, also ausnahmsweise gar an der Kasse bei
Aldi angenommen, dass ich ein Künstler sei. Man hätte angenommen die Zeitung hätte mit
irgendeinem Recht angenommen und geschrieben ich sei ein Künstler und so hätte man, was
die Zeitung annimmt selbstverständlich angenommen, es sei richtig und deshalb angenommen,
ich sei ein Künstler. Dabei wollte ich doch einfach nur eine Flasche Cola bezahlen, an
der Kasse im Aldi. Und die Frau an der Kasse wusste eigentlich nur, dass die Flasche Cola
eine Mark 32 kostet. Und sie wusste auch bald, ob ich soviel Geld besass um diesen Betrag
zu zahlen.
Andererseits gibt es auch Menschen, die selbst wenn ich vor meinen
Bildern stehe, - und vielleicht sogar deshalb - nicht für einen Künstler halten. Dies
hat zumeist damit zu tun, dass sie annehmen, ein Künstler mache Kunstwerke, dass sie
gerade die Bilder, die ich mache, aber nicht für Kunstwerke halten und deshalb auch
annehmen, ich sei kein Künstler, selbst dann nicht, wenn es in der Zeitung geheissen hat
ich sei Künstler. Vielleicht aber nimmt man auch an, dass ein Künstler heute in einer
Irrenanstalt leben müsse und nie in einer Galerie austellen dürfe. Ausserdem können
Künstler nicht reden, sondern nur stammeln oder wenn sie reden können, darf man sie ja
nicht verstehen, denn wenn einer etwas sagt, was ich verstehen kann, dann kann das doch
kein Künstler sein. Viele Kranke behandelt man heute indem man ihnen die Rolle des
Künstler zuspricht. Für die Gesellschaft scheint die Rechnung aufzugehen. Es ist doch
schön, wenn die Krankheit einen Sinn hat, nicht wahr? Da hat der Kranke wenigstens etwas
von seinem Leiden. Er wird durch seine Krankheit belohnt, wird durch seine Krankheit
berühmt, verewigt. Wie die modernen Mediziner, die ihren Namen zumeist hergeben für die
Bezeichnung von Krankheiten. Haben sie schon von einem Mediziner gehört, dessen Name für
eine Heilung steht?
Item: Es gibt mindestens so viele Gründe weshalb man einen Menschen
als Künstler betrachtet, wie es unendlich viele Gründe gibt, jemanden nicht für einen
Künstler zu halten. Bestimmt aber ist gerade der Künstler in hohem Masse der Mutmassung
ausgeliefert, was jemand von ihm, respektive wofür man ihn hält. Tatsächlich ist es
doch so, dass sich jedermann Künstler nennen darf. Es ist keine geschützte
Berufsbezeichnung. Zum Glück, müsste man sagen, denn diese Offenheit zur persönlichen
Stellungnahme des Betrachters, aber auch die Offenheit zur Möglichkeit des Irrtums seiner
Stellungnahme spricht für die Kunst und vielleicht auch für die Kunst des Künstlers und
für die Kunst des Betrachters.
Wir könnten sagen, Kunst sei all das, was vom Menschen als Kunst
angenommen wird. Diese Annahme ist nicht anders zu bestätigen, als in der Annahme selbst.
Kunst ist eine unbeweisbare aber auch unwiderlegbare Behauptung. Um sich mit Kunst
beschäftigen zu können müsste man zur Voraussetzungslosigkeit befähigt sein. Diese
Befähigung zur Voraussetzungslosigkeit bezeichnet Jakob Burckhardt als Aufgabe des
wahrhaftig nach Erkenntnis suchenden, d.h. geistigen Menschen, in der Einleitung zu seinen
weltgeschichtlichen Betrachtungen. Das ist von diesem Gelehrten mit Sicherheit nicht
einfach leicht dahingesagt. Kausalistisch ist die Aussage nämlich eine eindeutige
Sackgasse. Wie kann die Voraussetzung einer Aufgabe die Befähigung zur
Voraussetzungslosigkeit sein? Vielleicht indem man Aufgabe und Annahme als einander
zugehörig betrachtet. Kann doch nur etwas aufgegeben werden, das auch angenommen wird.
Und vielleicht indem man die hierarchische Struktur der Begriffe von Aufgabe und Annahme,
die doch Urgrund der kausalistischen Verquickung von Voraussetzung und Nachkommenden ist,
offen lässt. Es ist nicht die Aufgabe zuerst und dann die Annahme. Vielleicht ist auch
die Annahme zuerst und dann kommt erst die Aufgabe. Vielleicht ist beides zugleich da,
also von ausserhalb einer zeitlichen Dimension her kommend; sich aber hier in Raum und
Zeit dualistisch ausdrückend. Nehmen und Geben. In der heiligen Schrift, der Schrift der
Ganzheit, sind die beiden Worte genau gleich geschrieben. Nehmen und geben werden in
Hebräisch mit den genau gleich Buchstaben geschrieben. Der Leser ist frei, ob er das Wort
"nehmen" oder "geben" liest.
Zum Beispiel die Türe: Sie geht auf und jemand kommt herein. Geht
sie nicht auf kommt auch niemand herein. Also muss die Türe zuerst aufgehen, bevor jemand
hereinkommen kann. Kann aber die Türe offen stehen, ohne dass jemand hereinkommt? Ja,
durchaus. Weshalb aber sollte die Türe offen stehen, auch wenn gerade niemand
hereinkommen möchte? "Ja," sagt man, "sie ist offen, weil doch jederzeit
jemand hereinkommen könnte." Das ist nett gesagt. Aber wozu ist denn da eine Türe?
Dann würde doch der Türrahmen reichen. Und die Türe könnten wir gleich weglassen. Mhh.
Es ist vielleicht so, weil das Hereinkommen und das Hinausgehen im
Bild der Türe anwesend sind. Nach zwei Seiten kann sie ausschwingen. Nach Innen und nach
Aussen. Die Türe ist eben nicht nur eine Grenze zwischen dem Haus, - also Innen - und der
Welt - also aussen. Sie ist auch die Verbindung zwischen innen und Aussen. Sie ist eine
bewegliches Stück Wand. Ein bewegliches Stück Mauer. Dadurch dass diese Türe ein Stück
Mauer ist, schützt sie sowohl das Innen wie auch das Aussen. Dadurch aber, dass die Türe
beweglich ist, ermöglicht sie die Begegnung zwischen Innen und Aussen. Das Hereinkommen
und das Hinausgehen heisst: offene Türe. Von daher gesehen ist dieses kausalistische
Gesetz: "Zuerst muss die Türe offen sein, erst dann kann jemand hereinkommen"
zwar einerseits richtig. Anderseits steht die Türe schon für das Hereinkommen und
Hinausgehen. Sonst wäre da nämlich keine Türe, sondern einfach ein Stück Wand. Dadurch
steht die Türe aber auch für "offen sein". Die Türe ist Offenheit, selbst
dann, wenn sie faktisch verschlossen scheint. Sie steht aber auch für Verschlossenheit,
selbst dann wenn sie offen scheint. Damit meinen wir in anderer Terminologie: Austausch.
Damit meinen wir aber auch: Bedingung. Aber nicht im Sinne von Zollabgabe. Nämlich so,
dass der Erhalt und das Wachstum der Eigenart des Innen und des Aussen bedingt ist vom
Mass der Verschlossenheit und Offenheit ihrer gemeinsamen Grenze. Man darf sich aber
dieses Mass nicht als einen festen Wert vorstellen. Das wäre so dämlich, wie wenn man
aufgrund der Überlegung, dass doch die Türe pro Tag nur während 3 Minuten geöffnet
ist, sie einfach zwei Zentimeter offen stehen lässt und dafür fest so mauert. Dann kommt
gar kein Gast mehr mehr herein und heraus und es gibt im Innern Durchzug und
Erkältungskrankheiten. Das Mass der Verschlossenheit und Offenheit der Grenze ist kein
starrer, fester Wert, es ist eine Bewegung, Rhythmus und Melodie des Auf- und Zugehens
einer Türe, des Hereinkommens und Hinausgehens von Gästen. Das ist zwar eine etwas
umständliche Definition von Türe. Man muss sich aber an sie auch nicht erinnern, wenn es
an ihrer Haustüre morgen klingeln sollte. Aber vielleicht wäre es denkbar, sich die
Türe als die Offenheit des Verschlossenen zu merken. Offenbarkeit des Verborgenen.
Transzendenz sagt man dem auch. Deshalb ist die Türe und das Tor auch zentrales Thema
jeder Religion. So gesehen stellt die Annahme der Kunst durchaus auch eine Aufgabe dar.
Gewiss: Es existieren gesellschaftliche Vereinbarungen darüber, was
in einer Zeit in einer bestimmten Gesellschaft als Kunst gilt. Diese Vereinbarungen - es
sind banale Machtmechanismen - ändern von Zeit zu Zeit von Gesellschaft zu Gesellschaft.
Kunstgeschichte ist in ihrer untauglichensten, wenngleich leider auch in ihrer
verbreitetsten Form - die Historie solcher sogenannt gesellschaftlich relevanter
Vereinbarungen zur Kunst. Von Relevanz zu Relevanz. Sie schreibt die Geschichte der
gesellschaftlichen Machtmechanismen unter dem Titel "Kunst". Die Kunst an sich
bleibt von dieser Art Kunstgeschichte jedoch unberührt. Ob es eine Geschichte der Kunst,
also eine Geschichtskunst anstelle der Kunstgeschichte überhaupt geben kann, muss
fraglich bleiben. Zuerst wäre dann wohl zu prüfen, was Geschichte sei, aber auch was
Natur sei und worin sich Natur als mechanistisches, kausalistisches, physikalisches System
unterscheidet vom geistigen Gebäude der Geschichte.
Auch im einzelnen Menschen kann sich die Annahme, was Kunst sei,
ändern, von Lebensphase zu Lebensphase, von Erfahrung zu Erfahrung, von Bedürfnis zu
Bedürfnis. Die Annahme, was Kunst sei, ist jeweils auf die Gegenwart gerichtet, auf die
Begegnung mit dem Hier und Jetzt der Welt. Dies gilt selbst dann, wenn scheinbar über
längst vergangene Kunst gesprochen wird. Gesprochen wird in der Gegenwart und das
scheinbar vergangene Kunstwerk wird damit wieder gegenwärtig. Das vergangene Kunstwerk
besitzt aber zugleich eine eigene Gegenwart, die von der jetzigen Gegenwart, der
gegenwärtigen Gegenwart, abgeschieden ist, nicht nur abgeschieden, sondern vielmehr noch,
geschützt und erhalten in ihrer Einzigartigkeit durch die Dimension der Zeit. Die
Vergänglichkeit ist zugleich Schutz der Einzigartigkeit der früheren Gegenwart. Die
Betrachtung der Zeit als Untergang ist eine naturhafte und nicht geschichtlich. Zum
geschichtlichen Bewusstsein gehört der Respekt vor der ewigen Einzigartigkeit aller
zeitlichen Momente. Die zeit hat trennede und verbindende Seite. Sie erinnern sich doch
noch an die Türe. Andere, frühere Gegenwart wird nicht mehr gegenwärtig. Sie kommt aus
dem Fundus des Geschichtlichen hinein in die jetztige Gegenwart. Ist Gast, ein Besucher
aus dem Ewigen. Diese Bewegung der Wandlung einer Haltung des Menschen und der Wandlung
seiner Annahmen von Unwissbaren, könnte man als Geschichte bezeichnen. In der Geschichte
gibt es keinen Untergang und kein Aufgehen und Wiederauferstehen. Und nur deshalb, weil
die Geschichte ausserhalb dieser naturhaften Kategorien steht, kann sie die Natur und ihre
Aufgänge und Untergänge beschreiben. Damit nimmt sie aber zugleich die Natur aus ihrer
Verlorenheit im Untergang und Aufgang heraus. Deshalb ist Geschichte und Sprache und
Denken und Geist immer Ausdruck eines dem Alleinsein der Natur widersprechenden
Urgedankens. Widerspruch aber als ein Gegenüberstehen. Wie Mann und Frau. Widerspruch als
Möglichkeit zu einem Dialog, einem Gespräch, einer Ehe, mit Kindern und Enkelkindern.
Freilich kann man diesen Gedanken, dass es noch etwas gäbe ausser Natur und Materie auch
ablehnen. Und offenbar gibt es im Bereich derer, die sich ausschliesslich mit Materie und
Natur befassen, nichts, was zwingend wäre, diesen Gegepol anzunehmen. Vielmehr bestrebt
die Naturwissenschaft, alle aufkeimenden Gedanken, die der alleinigen Herrschaft der Natur
widersprechen, immer wieder mit einem pathologischen Eifer und absurdem Einsatz in ihr
Gebäude einzubauen.
Der einzelne Mensch muss mit gesellschaftlichen Kunstnormen
keineswegs übereinstimmen.
Er ist ausdrücklich frei. Dies wird in der neuen Schweizer
Bundesverfassung in einem eigenen Artikel ausgesprochen. Art 21 lautet : "Die
Freiheit der Kunst ist gewährleistet." Hier müsste sich der Staat und das
Gemeinwesen Argumente zurechtlegen, um zu begründen, weshalb sie dennoch gewisse Kunst
als förderungswürdig betrachten, andere nicht. Wiederspricht dies nicht der Freiheit der
Kunst, wenn die Kulturförderung des Staates ob eingestanden oder verdrängt als
Zensurstelle fungiert? Dasselbe ist von Kunstinstituten und Kunstschulen zu sagen, die
einen bestimmten Stil oder eine bestimmte Ausdrucksform als künstlerisch definieren. Ist
dann die Freiheit der Kunst noch gewährleistet? Die Tatsache, dass erst 1998 dieser Satz
in die Bundesverfassung neu aufgenommen wurde, lädt ein zu vielen Fragen: Galt früher
dieser Satz nicht? Noch nicht? Oder war er eine Selbstverständlichkeit? Ist die Freiheit
der Kunst bedroht? Ist die Freiheit der Kunst insbesondere in der Gesellschaft, dier sich
um sie zu bemühen zu müssen meint, bedroht? Kann der Staat überhaupt die Freiheit der
Kunst gewährleisten? Ist die Angabe der Leistung dieser Gewähr nicht eine Frechheit und
Anmassung? Steht nicht die Freiheit der Kunst eben gerade dem Staat gegenüber. Nicht
entgegen, wie der Staat oft meint, - gegenüber. Was will denn die Gesellschaft von der
Kunst vereinnahmen? Die Stimmung einer Gesellschaft, die sich in der Art solcher
Grundsätzen " Die Freiheit der Kunst ist gewährleistet." äussert, ist eines
mit Bestimmtheit: Ängstlich, verunsichert. Der Satz " Die Freiheit der Kunst ist
gewährleistet" tönt wie ein Ruf nach der Kunst, die der rufenden Gesellschaft zu
entgleiten scheint. Ein Werbespruc zur Wiederansiedelung der Kunst. Dieser Instinkt ist
zweifellos richtig. Die Annahme des Entgleitens aber geht von der falschen Annahme aus,
die Gesellschaft habe je Kunst besessen und habe je über sie verfügt. Die Gesellschaft
besass nie Kunst. Wenn sie der Kunst Raum gab, dann nur dort, wo sie sich aus diesen
Räumen zurückzog. Meist sind es Bruchbuden und Ödland, das sie selber nicht benötigt.
Wohl deshalb ist sie stets so bemüht, dieses Gegenüber anzurufen und in die eigene
Herrschaftsstruktur einzubinden. Die Freiheit der Kunst ist gewährleistet. Da schwingt
unter dem herrischen Gelöbnispathos eine seltsame Verzweiflung mit, als ob auf der Seite
der Eheanbahnungsannoncen im Selbstinserat einer jungen Frau der Satz stünde: "Die
Freiheit des Mannes ist gewährleistet." Staat und Kunst stehen sich immer
gegenüber. Jede Frau hat ein Recht für sich bestimmen zu wollen, wie ein ihr geeigneter
Mann beschaffen sein müsste. Ob sich damit allerdings eine Ehe anbahnen lässt, die auf
Liebe gründet, ist mehr als zweifelhaft. Überlassen wir dieses Problem denen, die sich
dazu berufen und befähigt fühlen, beurteilen oder doch zumindest entscheiden zu können,
was als Kunst zu gelten hat. Es ist der Bereich der verzweifelten Natur, der Bereich
naturhafter, materialistischer Macht und Herrschaft.
Was ist nun Kunst? Ja, wir sind also tatsächlich noch nicht viel
weiter: Eine Annahme, etwas sei Kunst. Aber zugleich auch die Annahme, etwas anderes sei
nicht Kunst. Oder auch: Noch nicht Kunst. Denn wenn alles Kunst wäre, würde sich die
Annahme, etwas sei Kunst erübrigen. Kunst könnte gar nicht entstehen. Sie hätte keinen
Werdegang, keinen Weg und keine Dauer in dieser Welt. Wenn alles Kunst ist, sind die
Menschen die so von ihr reden: ungeschichtlich. Wie kann etwas, was nicht entstanden ist,
etwas sein? Kann etwas sein, ohne es geworden zu sein?
Da wir aber im Zeitalter der ungeschichtlichen Bildungsmenschen
leben, sei es wiederholt: "Alles ist Kunst" Man sagt dies so dahin wie man
gerade heute, wo alles nur auf Renditen und Anlageziele starrt, gerne zitiert: "Der
Weg ist das Ziel" Der Weg ist eben gerade nicht das Ziel, weil der Weg der Weg ist
und das Ziel das Ziel ist. Viel ehrlicher wäre es, zu sagen: Ich habe kein Ziele mehr,
oder: Mir ist der Weg, die Bewegung abhanden gekommen. Zum Ziel gehören der Weg und das
Ziel. Zum Weg gehören der Weg und das Ziel. Oft hört man dann : "Ja, ja, so habe
ich das ja auch gemeint". Man fragt noch kurz zurück: "Wie hast Du, und was
hast Du gemeint?" Meist hat man dann aber keine Zeit und keinen Weg mehr, weil doch
gerade dieser Weg durch das Land der Bedenklichkeit nicht zu einem Ziel führen kann. Und
auf solchen Wegen zu gehen wäre doch auch unsinnig, denn nicht wahr: Für den Weg braucht
man Zeit und Zeit ist doch Geld. Wenn aber der Weg das Ziel ist, dann ist doch auch die
Zeit das Ziel und der Weg das Geld. Auch ist das Geld das Ziel und der Weg die Zeit. Und
alles ist eins. So schwungvoll entledigt man sich der Sprache.
Alles ist Kunst? Von Allem können wir bestenfalls in jeweils
Einzelnem reden. Von dem und dem und dem und dem und dem. Von Allem das wichtigste ist
aber das und zwischen dem Einzelnen. Alles können wir bestenfalls im Einzelnen
oder von Einzelnem zu Einzelnem schauen. Ob wir dabei aber wirklich Alles schauen, ist
zumindest fraglich, denn wir wissen nicht, was Alles ist. Es existiert keine rote Lampe
die plötzlich nach einer langen Reihe von Einzelnem plötzlich aufleuchtet:
"Alles!" Gäbe es sie trotzdem: Vielleicht leuchtete diese Lampe bloss zu
Testzwecken. Und die vermeintlich Erleuchteten wären bloss ein Irrtum. Vielleicht
erlischt die Lampe ja auch wieder nach einiger Zeit. Das aber würde natürlich den Schein
der Erleuchtung nicht mindern. Andere würden gar behaupten: Die Lampe müsse nicht
leuchten, um das Alles anzuzeigen: Sie müsse blinken. In ehrlichen Sekundenbruchteilen
müssten manche gestehen: Ich vertraue eh nur dem Blinken der Lampe, die ich selber
installiert habe. Der Rest ist Schweigen.
Wir wissen nur von Einzelnem, von dem wir annehmen, dass es zu Allem
gehört, der umfassendsten Einheit des Daseins. Vielleicht aber gibt es gerade dieses
unbestimmte und unbestimmbare Alles nicht. Kaum ausgesprochen, beginnt in letzterem Satz
das "Alles" seiner Negation zu widersprechen. Wenn es Alles nicht gibt, weshalb
gibt es denn das Wort Alles? Was heisst "gibt", "es",
"nicht"? Könnte es ein Wort für etwas geben, das es nicht gibt? Löst sich
jedes Einzelne im chaotischen Alles auf? Tritt das Einzelne als befristete Bestimmtheit
aus der Leere und dem Chaos des Unbestimmten heraus und verschwindet hernach wieder im
verzehrenden Nichts? Das wäre dann die naturhafte religiöse These. Oder ist das
umfassende Alles eine verborgene Quelle jedes Einzelnen und kehrt dieses einzigartige,
geschichtliche Leben mit dem Mehr seiner zeitlichen Erfahrung ins Ewige zurück? Könnte
es sein, dass wir mit unserem zeitlichen Dasein auch die Ewigkeit bereichern und
beschenken? Oder ist es so, dass wir mit unserer Einzigartigkeit und Bestimmtheit bloss
den selbstgewissen Glückszustand des Chaos stören, für eine kurze Zeit nur, bis uns das
Nichts wieder verschlingt? Ist nicht unsere Einzigartigkeit, unsere Individualität
geradezu ein krankhafter Wahn, der dem Glück der Versunkenheit in allgemeiner Leere und
unpersönlichem "Dasein" wie ein Geschwür anhaftet?
Nehmen wir an: Kunst gibt es nicht. Das Wort "Kunst" und
alles, was aus ihm hervorgeht, sei ein Irrtum. Was wir von der Kunst als Annahme der Kunst
sagten, können wir auch von der Kunst als Irrtum sagen. Jede Annahme beinhaltet doch die
Möglichkeit des Irrtums. Darüber hinaus ist jede Annahme aber auf die Klärung der Frage
"Irrtum oder nicht" hingerichtet. Die Annahme möchte erlöst werden aus ihrer
Ungewissheit. Dieser Drang ist umso stärker, je unsicherer seine Richtigkeit scheint.
Sehnsucht und Zwang, Wunsch und Verzweiflung enthemmen sich, stürmen in die Nähe von
Gewalt, Krieg und Vernichtung. Jede Annahme aber ist sich bewusst, dass sie noch nicht
erlöst ist. Sie ist sich auch bewusst, dass jede scheinbare Erlösung auch wiederum nur
Anlass zu einer neuen Enttäuschung (oder Klärung) ist, dass es eine Gewissheit für die
Richtigkeit der Annahme nicht gibt. Eine greifbare und nachvollziehbare Bestätigung
dafür, dass etwas Kunst ist, - man denke dabei an eine Art Lackmustest - widerspräche
der Annahme, dass etwas Kunst sei. Wir wüssten dann, was Kunst ist: In diesem speziellen
Fall: Ein Irrtum.
Jeder Irrtum äussert sich auch. Er hat eine erscheinende Seite. Ist
je etwas angenommen worden, ohne dass es in der Welt materiell erschienen wäre?
Erschienen ist es dann vielleicht als Lüge, als Irrtum, aber es ist erschienen. Zum
Beispiel in einem Gespräch, in einem Text einem Bild, einem Gebäude, und auch in den
Menschen die darin Dienst tun. Auch die irrtümliche Annahme, es gäbe und etwas sei
Kunst, hat ihre Werke. Ob man die nun Kunstwerke oder Irrtumswerke nennen will, ist nicht
so entscheidend, weil uns zur Zeit noch die Möglichkeiten fehlen, ein verbindliches
Urteil zu fällen. Was wir aber annehmen ist: Allein im Wort "Kunst" liegt schon
der Kern von Dingen, die in der Welt erscheinen.
Wir sagen im vorauf gehenden leichthin, etwas könne Kunst sein. Das
ist ungenau. Etwa so ungenau wie wenn wir sagen würden, jemand spreche die Wahrheit. Es
kann sein, dass diese Person etwas Wahres ausspricht und dass wir annehmen, dieses Wahre
habe Anteil an der Wahrheit. Ebenso könnten wir von einem Ding sagen, dass es ein
Kunstwerk sei und damit annehmen, es habe Anteil an der Kunst. Das grossartige an der
Kunst ist, dass sie den Menschen in seiner ureigenen Freiheit anspricht, etwas ohne
Gewissheit anzunehmen. Im Akt dieser Annahme wird das Unbestimmbare und Unbestimmte
gewandelt, indem es verbunden wird mit einer, persönlichen Stellungnahme. Persönliche
Annahme ist untrennbar mit existentieller Verantwortung verbunden. Alle Auswege und
Ausflüchte zur Delegation eigener Verantwortung an unpersönliche Gruppengebilde fallen
dahin. Wer kann dies erragen? "Kein Mensch kann das ertragen!" ruft die
Gesellschaft. Und weiter ruft sie: "Aber ich opfere mich für Euch. Gebt diese Last
mir. Ich werde Euer Kreuz durch die Ehgräben des Alltags schleppen."
Auf der Ebene der Gesellschaft scheint es Gewissheit zu geben, was
Kunst ist. Diese Gewissheit wird zwar selten ausgesprochen, sie zeigt sich aber im
selbstverständlichen Funktionieren eines Kunstbetriebs. Viele Funktionäre dieses
Betriebs tun so, als ob das System einen Begriff der Kunst habe. Jede Gesellschaft hat
auch ihre eigenen Gesetze der Geschichtsschreibung, auch der Schreibung der
Kunstgeschichte. Das System der Kunstgeschichte verhält sich zum Beispiel auch ganz
selbstverständlich so, als habe sie einen Begriff der Kunst. Daher rührt das unangenehme
Gefühl, sich über die Kunst zu äussern. Während der einzelne Mensch etwas spürt von
der Unsicherheit und der Möglichkeit des Irrtums in seiner Annahme, was Kunst sei, treten
Gruppen und Gesellschaften und der Staat und der Markt oft so auf, als hätten sie das
niedere Stadium der blossen Annahme, was Kunst sei, überwunden. Durch die eingebildete
oder tatsächliche Macht dieser Gesellschaften äussert sich der Wille, festzulegen, was
Kunst ist. Innerhalb des Systems ist dann Kunst keine Annahme mehr, was Kunst sei, sondern
ein Bekenntnis zur Vollmacht der Gesellschaft, festzulegen, was Kunst ist, aber auch
festzulegen, was eben nicht Kunst ist. Dies hebt zwar die Freiheit des einzelnen Menschen,
anzunehmen was Kunst sei, nicht auf, verweist seine persönliche Annahme aber in den
Bereich des Belanglosen, Beliebigen, Privaten und damit auch in den Bereich des Unsinnigen
und gar des Asozialen. Wenn das Individuum solcherart nur in seinem Funktionieren für die
Gesellschaft gilt, dann ist es naheliegend von der Gesellschaft als der naturhaften
Organisationsform des Menschen zu sprechen.
Das System kennt die Freiheit einer Annahme, was Kunst sei, nicht,
da es nur innerhalb seines Gesetzes eine Berechtigung hat. Dies meint nun keineswegs, dass
diese Gesetze richtig oder gerecht sein müssen. Solche Gesetze können auch völlig
sinnlos, ja diabloisch sein. Sie müssen aber festgelegt sein, um einen für die Menschen
verbindlichen Rahmen einer Gesellschaft zu bilden. Das System einer Gesellschaft hat auch
unabhängig von den Menschen, die sie verwaltet, ein Immunsystem, welches den Erhalt ihrer
selbst bezweckt. Zuweilen auch gegen die Menschen, von welchen sie ursprünglich ihre
Berechtigung und ihre Aufgaben bezog. Dasselbe gilt für den Markt, dessen Struktur auch
unabhängig von den Produkten, mit denen er handelt, zuerst einfach sich selbst erhalten
will. Dies gilt auch für den Kunstmarkt, dem es letztlich egal sein kann, womit er
handelt. Sein System ist so gebaut, dass er nicht mit Kunstwerken handelt, sondern alle
Dinge die er handelt zu Kunstwerken erklärt, ja zur Kunst erklären muss, weil er doch
ein Kunstmarkt ist. Dieses Verhalten ist kein Fehler des Marktes, sondern die instinktive
Konsequenz eines natürlichen Gebildes, das mit seinen Reflexen und Instinkten zunächst
selber zu Überleben trachtet. Unschuldig wie ein Tier nimmt der Markt seine Aufgabe wahr,
die ihm übertragen wurde. Das System besitzt keine Möglichkeiten über sich zu
reflektieren.
Eine Gesellschaft kann nie gerecht sein. Sie verwaltet nach Gesetz,
Normen und Wahrscheinlichkeiten, die über den Einzelfall jedes einzelnen Bewohners
gestellt sind. Jede Form der Gesellschaft besitzt faschistoide Anlagen. Sie äussern sich
dann, wenn sich der Mensch diesem Tier der Normen unterwirft, von ihm nur Befehle
entgegennimmt und ausführt. Wenn die Gesellschaft dennoch nicht faschistoid wird,
verdankt sie es einzelnen Menschen, die die Verbindlichkeit ihrer Gesetze aufheben. Im
System der Demokratie ist diese Möglichkeit schon wieder ins System eingebaut in Form der
Legislative, die neues Recht und neues Gesetz schafft, allerdings ohne das Gesetz je
aufzuheben. Der institutionalisierte Durchbruch zur Erneuerung des Gesetzes einer
Gesellschaft geht aber nie vom System aus, - die Erneuerung des Gesetzte ist ja ihrerseits
schon wieder Gesetz -, sondern geht immer nur von einem einzelnen Menschen aus, dessen
Annahme, was gerecht sei, dem Gesetz widerspricht. Dieser persönliche Konflikt ist der
Quellpunkt zur Verbesserung einer Gesellschaft, die nie gut und eigentlich nicht einmal
besser werden kann, aber vielleicht einfach zeitgemässer in ihrer Ungerechtigkeit.
"Weil die Künste wesentlich die Vollkommenheit
voraussetzen."
Unsere Aufgabe heisst nicht, dass da eine klare Forderung bestünde,
die man nach Pflichtenheft und Organigramm erledigen, absolvieren kann. Von der
Vollkommenheit wissen wir doch nichts. Die Ahnung der eigenen Unvollkommenheit könnte ein
Hinweis sein darauf, dass die Vollkommenheit in uns da ist, und uns anspricht. Diese
Aufgabe ist keine Anforderung, weil sie zugleich Freiheit bedeutet. Und diese Unsere
Aufgabe ist damit zugleich Freiheit ohne Voraussetzung und Bedingung sie anzunehmen. Die
geschichtliche Betrachtungsweise des Menschen, stellt ihn an den Ort seiner Würde, weil
man ihn auf die Möglichkeiten seiner Wandlung hin betrachtet. Ein Mörder kann ein guter
Mensch werden, allerdings einer, der auch ein Mörder war. Aber auch: Ein guter Mensch
kann zum Mörder werden. Würde meint immer: Möglichkeit zur Wandlung zum Guten.
Letztlich aber auch im Sinne Kierkegaards: Rechtens vor Gott.
Der Geist ist die Kraft, jedes Zeitliche ideal aufzufassen. Er
ist idealer Art, die Dinge in ihrer äusseren Gestalt sind es nicht.
Der Geist muss die Erinnerung an sein Durchleben der verschiedenen
Erdenzeiten in seinen Besitz verwandeln. Was einst Jubel und Jammer war, muss nun
Erkenntnis werden, wie eigentlich auch im Leben des Einzelnen. J.Burckhardt, Unsere
Aufgabe, weltgeschichtliche Betrachtungen. Seite 51.