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Daniel Ambühl  Bildweg  Greifswald   Dokumente

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x Caspar David Friedrich
Ein biografisches Märchen

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Erzählung zum Bildweg in Greifswald

 

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XInhalt

Romantik  >

1.  Die Geburt 
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2.  Gescheiterte Hoffnung 
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3.  Trost der Natur 
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4.  Selbstbildnis 
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5.  Vermählung 
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6.  Christophorus 
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7.  Der Greif 
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Romantik

Der Bildweg Greifswald erzählt die Lebensgeschichte des berühmten Stadtsohnes Caspar David Friedrich (1774 - 1840) in der Form eines biografischen Märchens. Nicht nur, weil die Gebrüder Grimm zur Romantik gehören, sondern weil das Märchen die Lebenserfahrung des Menschen in eine abstrakte, besser: in eine poetische Fassung bringt.

„Romantisch" heisst in unserem heutigen Sprachgebrauch eine Stimmung des Menschen, die von Schwärmerei, Träumerei, weltfremden, phantastischen Vorstellungen geprägt und auf das eine Thema bschränkt ist, das wichtigste: Die Liebe. Meist unerfüllt ist diese Liebe. Aus der Distanz und Entfremdung, aus den Erfahrungen des Getrennt-Seins und der Sehnsucht heraus, besingt und umtanzt die Romantik den grössten Schatz des Herzens.

In der europäischen Geschichtsschreibung bezeichnet die Romantik einen Zeitabschnitt, der zwischen der französischen Revolution von 1789 und der bürgerlichen Revolution von 1848 liegt. Die Historiker streiten bis heute, wann und was die Romantik war, denn diese Phase in der Biografie der abendländischen Menschheit kennt gerade nichts Festes, findet keinen Halt in der Zeit und besitzt keine konkreten Sachverhalte: Sie ist eine Übergangsphase mit allen Hoffnungen und Ängsten; erfüllt von glühender Sehnsucht, getrieben vom schwärmerischen Drang nach dem noch nicht greifbaren Neuen, zu tiefst aber auch erschrocken über das bereits verlorene Gut der Vergangenheit. Zur Romantik gehören die schlaflosen, aufgewühlten Nächte der Ungewissheit, die Verzweiflung, die Einsamkeit, aber auch die grössten und tiefsten Seelenwünsche und die Trunkenheit des Glaubens, dass sie erfüllt werden.

Beide Seiten, die romantische, sehnsuchtvolle Stimmung im Menschen und die Gestimmtheit der Menschen in der Zeit der Romantik, haben sich in einzigartiger Weise im Leben und im Werk von Caspar David Friedrich verdichtet. Es ist eine Biografie des erlebten und gelebten Bruches, und kaum ein anderer Künstler hat je diese Tiefe und peinliche Ehrlichkeit erreicht, in der Caspar David Friedrich die Zerwürfnisse im Anblick des eigenen Abgrundes und die Visionen des Liebeskranken beschrieb. Asketisch und nüchtern hielt er an Bord eines trunkenen Schiffes über das endlose Meer hinweg Ausschau. Er hat sich bis zuletzt in der schmerzhaften Anspannung der Ungewissheit gehalten: „Wir werden sehen, ob dereinst aus dieser Puppe ein Schmetterling ausschlüpft oder nur eine Raupe."

Im Märchen über das Leben Caspar David Friedrichs sind viele biografische und zeitgeschichtliche Ereignisse verwoben. Aber so, dass die von diesem Menschen in seiner Zeit erlebte Weltwirklichkeit als unergründliches Geheimnis der Person gewahrt bleibt. Das Märchen ist - wie die Romantik auch - schüchtern und scheu. Es nähert sich dem Geheimnis nicht an, indem es die konkrete Haut der Geschöpfe beleuchtet, sie zu sezieren, bewerten und untersuchen trachtet, sondern, indem sie das vergängliche Kleid des Lebendigen mit einer Widmung an den Glanz des von ihm empfangenen geistigen und religiösen Inhaltes schmückt - aus respektvoller Distanz. Damit erfüllt das Märchen eines der Hauptanliegen der Romantik, die Heiligkeit der vergänglichen Erscheinungen der Schöpfung zu achten; und das ewig Lebendige zu ehren, das uns heute fern, tot, stumm und nichtig scheint.

Das vorliegende biografische Märchen ist eine Erzählung über eine Stimmung, die jeder Mensch ganz persönlich in sich erleben kann. Und dies erst noch auf einem Weg durch die Heimatstadt von Caspar David Friedrich. Über sieben Stationen führt dieser Bildweg und jeder Station ist ein Kapitel und ein Bild des Märchens zugehörig.

 

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Die Geburt

Es war einmal in einer Stadt, die Greifswald hiess, ein Seifensieder und Lichtgiesser. Aus Rindertalg und Knochen kochte er Seife und goss Kerzen. Die Stadtbewohner rühmten ihn für sein Handwerk: „Du gibst uns Seife, damit wir uns von den Beschmutzungen unseres Tuns reinigen können!" sagten sie, „Und Kerzen, die uns Licht spenden in der Dunkelheit. Du machst uns des Friedens reich." Deshalb hiess der Seifensieder mit Namen Friedrich.
Seine Seifensiederei befand sich mitten in der Stadt, gleich neben dem herrlichen Dom, dessen Turm die Dächer der schmucken Häuser weit überragte, sodass man ihn schon sah, wenn man noch eine Tagesreise von Greifswald entfernt war. Der Wind trug aber den Gestank der Seifensiederei zum Dom hinüber, und die Domherren fragten: "Woher stammt dieser üble Geruch, der neuerdings in unserer Kirche ist?" Als sie merkten, dass es die Ablüfte der Seifensiederei waren, erhoben sie Einspruch und klagten zu den Stadtbewohnern: „Was ist mit Euch geschehen? Doch nicht die Seife kann Euch rein machen! Mit Gottes Hilfe, durch Jesus Christus, werdet ihr wieder rein, und nur sein Licht kann Euch in der Finsternis erhellen!" Die Stadtbewohner erwiederten: „Ja, es ist wohl wahr, dass durch Gottes Hilfe unsere Seelen rein werden und Licht in die Finsternis unserer schuldigen und sündigen Herzen kommt. Dennoch aber wollen wir auch die Seife und auch die Lichter des Friedrich. Denn wir wollen sowohl aussen rein also auch innen rein sein."

Der Streit zwischen den Domherren und dem Seifensieder wurde bald lästiger als der Gestank der Seifensiederei, und schliesslich wurde die Bürgerschaft zusammengerufen, um zu beraten, was zu tun sei und wer sich im Recht befände: der Seifensieder, die Domherren oder die Bürger der Stadt. Eine Lösung wurde jedoch nicht gefunden, und schliesslich sprach der Bürgermeister: „Dann bleibt uns wohl nichts übrig, als einen Boten zum Vogel Greif zu schicken. Schliesslich hat er für uns ein Stück Wald gerodet, damit wir hier leben können; ist Namensgeber und Wappentier unserer Stadt; und schon zu Zeiten, als hier noch keine Kirche und keine Seifensiederei stand, war er Schirmherr unserer Vorfahren." Als Zeichen, dass der Bote beim Vogel Greif war, solle er eine seiner Federn mitbringen. Alle waren einverstanden. Insgeheim aber nahm der Bürgermeister an, der Bote komme sicher nicht mehr zurück, denn der Vogel Greif war bekannt dafür, dass er die Menschen in Stücke riss und auffrass. Falls der Bote aber ausbliebe, würde sich der Streit von selber legen. Doch schon drei Tage später kam der Bote zum Erstaunen aller zurück und erst noch wie ein König geschmückt auf einem Pferd und mit vielen wertvollen Geschenken. In der Hand trug er eine goldschimmernde Feder. Die Bürger der Stadt liefen auf dem Marktplatz zusammen und bestürmten den Boten: „Was hat der Vogel Greif gesagt?". Der Bote antwortete: „Er sagte: Das nächste Kind, das in der Stadt geboren werde, werde die Frage beantworten."

Wie es der Zufall wollte, war die Frau des Seifensieders gerade schwanger und gebar schon am nächsten Tag mitten im Gestank der Seifensiederei einen Sohn. Die Anhänger und Freunde des Seifensieders trumphierten: „Das ist der Beweis!" riefen sie, „Mehr noch als das geistige Heil ist es wichtig, dass wir unseren Körper rein halten. Zuerst die Seife, dann die Gnade Gottes!" Die Domherren entgegneten: „Was nützt es Euch, wenn ihr aussen rein seid, aber Euer Herz ein Schweinestall! Das kann nicht das Kind sein, das der Greif meinte!" Den Stadtbewohnern war recht, dass nichts entschieden war. Einer der Domherren aber dachte bei sich: „Es ist doch noch nie jemand zurückgekommen, der zum Vogel Greif ging!" Wenn andrerseits wahr wäre, was der Bote erzählt hatte, würde auch er, der Domherr, wenn er zum Greifen ginge, seine Fragen beantwortet erhalten, mächtig und mit Reichtum überhäuft zurückkehren. Und er machte sich auch auf den Weg. Doch er kehrte nicht wieder. Nicht nach drei Tagen. Nicht nach drei Monaten, als sein Nachfolger bereits im Amt war. Und auch nicht nach drei Jahren, als man ihn längst vergessen hatte.

In Greifswald blieb alles beim Alten. Die Leute gingen weiter zur Kirche. Sie gingen aber auch weiter zum Seifensieder und an den Gestank gewöhnte man sich.

Die Frau des Seifensieders hatte ihren Sohn Caspar genannt, was bedeutet: Hüter des Schatzes. Der Vater gab ihm den zweiten Namen David, weil er sich wünschte, dass sein Sohn geliebt werde wie ein König. Im Nikolaidom wurde Caspar David getauft. Er wuchs in Greifswald heran mit vier Brüdern und drei Schwestern. Als er sieben Jahre alt war, starb seine Mutter und als er acht war starb seine Schwester Elisabeth. Caspar David, der von der Geschichte mit dem Vogel Greif und von der Aufgabe, die ihm gestellt war, nichts wusste, trauerte ihnen lange nach. Nur sein jüngerer Bruder Johann Christoffer tröstete ihn, denn mit ihm spielte er am innigsten.

 

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Gescheiterte Hoffnung

Im dreizehnten Jahr seines Lebens - es war kurz vor Weihnachten - ging Caspar David mit seinem Bruder Johann Christoffer zum Eislaufen weit hinaus auf den gefrorenen Bodden. Die Sonne war soeben aufgegangen und verwandelte die Eisfläche in ein von Horizont zu Horizont gespanntes strahlend weisses Leintuch. Doch plötzlich brach das Eis unter den Füssen von Caspar David ein, und er fiel in das tintenschwarze Wasser. Mit tödlicher Faust packte ihn die Kälte. „Hilf mir, Johann Christoffer" rief er, und versuchte, heftig um sich schlagend, aus dem Eisloch herauszuklettern, doch seine Hände fanden an den glatten und scharfen Kanten des Eises keinen Halt, und er fiel zurück. Johann Christoffer eilte heran, ergriff, am Rand des Eisloches kniend, Caspar Davids Hand und half ihm soweit, dass dieser endlich mit seinem Oberkörper auf die Eisplatte gleiten konnte. Noch bevor Caspar David aber ganz aus dem Wasser befreit war, brach nun die Scholle unter den Knien von Johann Christoffer ein, und dieser glitt, ohne einen Laut von sich zu geben, an seinem Bruder vorbei ins schwarze Wasser und verschwand im nächsten Augenblick unter der gefrorenen Eisdecke. Verzweifelt den Namen seines Bruders rufend, rutschte der Gerettete auf den Knien um das Eisloch herum, von welchem sein Bruder verschluckt wurde. Er wischte und kratzte mit blossen, blutigen Händen den Schnee von der Eisdecke, um durch das gefrorene Wasser hindurch Johann Christoffer zu entdecken. Vergeblich. Auch als nach Mittag vom Fischerdorf Wieck her, mit Leitern und Seilen ausgerüstet, einige Männer aufbrachen, um die Leiche des Johann Christoffer zu finden, kamen sie, als es schon Dunkel war, ergebnislos zurück. Die Abdankung für Johann Christoffer fand vor einem leeren Sarg in der Jacobikirche statt.

Seit diesem Unglück war Caspar David untröstlich. Er fühlte sich schuldig am Tod seines so geliebten Bruders, und niemand konnte ihm diese Last erleichtern. Nicht die Seifen seines Vaters konnten ihn von dem tiefen Empfinden der Schuld rein waschen, und auch das Licht der Kerzen drang nicht bis in die Schwärze seines Herzens. Caspar Davids Vater erkannte wohl, dass sein Sohn keinerlei Neigung besass, wie seine anderen Brüder in der Seifensiederei mitzuhelfen. Deshalb schickte er ihn, als er siebzehn Jahre alt war, hinüber zum Nikolaidom, da der Domherr mit ihm sprechen wolle, ob er vielleicht Geistlicher werden möchte. Da aber sprach Caspar David zum Pfarrer: „ Möget Ihr weiterhin den Menschen in gutem Glauben vom grossen Tröster im Himmel reden und davon, dass Jesus Christus am Kreuz für die Sünden der Menschen gestorben ist. Ich aber müsste lügen, um so reden zu können. Denn davon weiss ich nichts. Meine Mutter Dorothea - was doch heisst: „Geschenk Gottes" - ist mir genommen worden. Meine Schwester Elisabeth - was doch heisst: „Gott gewidmet" - und eben kürzlich im Mai auch meine Schwester Maria, die den Namen der Mutter des Heiland trug: Sie sind mir genommen worden. Am Tod meines geliebten Bruders Johann Christoffer - was doch heisst: „Gott ist gnädig" und: „Träger des Christus, der Hilfe Gottes" - bin ich gar mitschuldig. Wenn es einen Gott gibt, wie ich noch immer zu glauben mich bemühe, dann müsste ich ihn anklagen für dieses Verbrechen, welches er an meinen Geliebten, an all den anderen Menschen und an mir begangen hat und dass er uns hilflos in dieser Schwärze zurücklässt und es in seiner weltlichen Wohnung, in dem Kirchenschiff, in welchem ich in seinem Namen getauft wurde, nach einer Mischung von Angstschweiss der Frommen und Gestank der Seifensiederei riecht. Wäre das Kloster Eldena nicht eine Ruine, hätte ich mich längst dort gemeldet, um schweigend Busse zu tun. Aber selbst diese Möglichkeit hat Gott mir genommen. Ja, ich fürchte gar: Gott ist tot. Doch hoffe ich - hoffnungslos - dass er irgendwann auferstehe."

Als er von diesem Gespräch vernommen, erkannte der Seifensieder Friedrich, dass Caspar David nicht auf bereits vorgegebenen Wegen ins berufliche Leben hinaus treten konnte, sondern dass er seinen eigenen Weg gehen und seiner eigenen Berufung folgen müsste. Er erinnerte sich an den alten, längst vergessenen Streit, an den Spruch des Vogel Greif, er und schenkte Caspar David zum achtzehnten Geburtstag ein schlichtes Holzkästchen, in welchem der zur kunstvollen Schreibfeder gearbeitete Kiel der Feder des Greifen lag, und wünschte seinem Sohn, ohne ihm die Herkunft und Geschichte der Feder zu verraten, sie möge ihm Glück und Segen bringen.

 
Trost der Natur

Im Sommer seines zwanzigsten Lebensjahres verliess Caspar David ohne festes Ziel seine Heimatstadt Greifswald. Er trug nur die Schreibfeder aus dem Kiel des Vogel Greif bei sich, ein kleines Fläschchen mit der Tinte der Sepia und einige Blätter hochweissen Hadernpapiers. Draussen vor der Stadt, auf einem schmalen und gewundenen, fast gänzlich zugewachsenen Weg, der über weite Wiesen führte, durch schattige Wälder, an einzelnen Eichen vorbei, unter dem hohen Himmel mit seinem ruhig fliessenden Wechsel des Lichtspiels der Sonne in den Wolken - da ging sein Herz auf. Er war froh, kein Haus und keine Stadt und keine Menschen zu sehen. Am Abend setzte er sich am Wegrand bei einer Birke nieder. Er war müde geworden, verspürte aber keinen Hunger, da er sich an den Geschöpfen der Natur sattgesehen hatte und er sich in ihrer Gesellschaft seit dem Tod seines Bruders Johann Christoffer erstmals wieder zutiefst glücklich fand. Als der Mond aufging, nahm er sein Hadernpapier hervor, öffnete das Tintenfläschchen und begann mit der Greifenfeder zu zeichnen. Kaum hatte er damit begonnen, die Blätter eines kleinen Strauches in einer Skizze einzufangen, hob dieser Strauch unmittelbar mit ihm zu reden an. Der Strauch erzählte ihm von den Geschehnissen auf dem Weg, der an ihm vorbeiführte, vom strengen Winter, den Amseln, die seine Beeren pickten, und von seinem Glück, mit ihm, dem Wanderer, ins Gespräch zu kommen. Während er weiter zeichnete, berichtete Caspar David seinerseits von seinem Leben und dem traurigen Schicksal, das ihm mit dem Tod seines Bruders zugestossen sei. Nun begannen auch die Kiefern, Fichten und Eichen mit ihm zu reden, kaum waren sie von seiner Zeichenfeder berührt worden; der ferne Berg trat herzu in die Runde und auch der Mond, die Wolken, die Gräser und die Steine auf dem Weg.

Am nächsten Morgen wanderte Caspar David weiter, jede Stadt, jedes Haus meidend, und so dauerte seine Wanderung schon bestimmt 40 Tage, als er von weitem die Kirchtürme einer schönen Stadt erblickte und in ihm die Sehnsucht nach den Menschen erwachte. In der Stadt angekommen, fragte man ihn, woher er käme und was er täte. Caspar David zeigte den Fragenden die Zeichnungen, die er bei sich trug. Doch seltsam. Kaum fiel der Blick eines Betrachters auf die Linie eines Strauches, begann dieser Strauch - obgleich er nur auf das Papier gezeichnet war - zum Betrachter zu sprechen, so dass dieser ihn laut, verständlich und deutlich hören konnte, während alle umstehenden Menschen nichts davon vernahmen. Zuerst erschracken die Menschen, als sie so persönlich und ausschliesslich von einem gezeichneten Strauch oder Baum oder Stein angesprochen wurden. Sie getrauten sich nicht, den anderen Menschen - obschon diese dasselbe erlebt hatten - mitzuteilen, dass die Sträucher und Bäume, Berge, Mond, Wiese und die Steine des Weges zu ihnen gesprochen hatten, denn sie fürchteten sich, ausgelacht oder für verrückt gehalten zu werden. Man erkannte jedoch allgemein, dass eine merkwürdige Begabung in dem jungen Mann anwesend war, und schickte ihn deshalb zur königlichen Kunstakademie der Stadt, er solle sich dort vorstellen.

Die Kunstprofessoren, die ihn empfingen, erlebten dasselbe wie zuvor die Menschen in der Stadt. Sie waren verblüfft, konnten, was da vor sich ging, weder fassen noch erklären. Sie schwiegen allesamt, weil sie sich vor ihren Kollegen nicht lächerlich machen wollten, oder hielten mit verhaltenem Stolz das Geschehen für den Beweis der Grösse des eigenen Könnerblickes - was sie darin bestätigte, zu Recht Kunstprofessoren zu sein. Da aber alle merkten, dass der junge Mann eine eigenartige Befähigung besass, entschied der Rektor der Kunstschule, Caspar David könne sich in einer Zeichenklasse einschreiben. Es müsse aber noch vieles an seinem Stil verbessert werden, da doch seine Striche noch sehr ungelenk aussähen.

In den vier Jahren an der Kunstschule lernte Caspar David einiges dazu, was gerade zum modischen Stil der Zeit gehörte. War er beim Kopieren des Zeitstils auch nicht überaus begabt, so lag dennoch weiterhin diese Besonderheit in seinen Arbeiten, dass die von ihm abgebildeten Geschöpfe die Betrachter ansprachen. Zwar wagte niemand - schon gar nicht seine Lehrer -, Caspar David gegenüber von dem merkwürdigen Erlebnis mit seinen Zeichnungen zu berichten. Im Stillen verbreitete sich jedoch das Gerücht dennoch und kam schliesslich sogar dem König zu Ohren, der in arger Bedrängnis war, weil ein einäugiger Riese das Land bedrohte und es vor dem sicheren Untergang stand. „Vielleicht kann uns dieser Künstler helfen" sprach der König zu seinen Beratern. „Majestät," erwiederten diese, „Caspar David ist nur ein mittelmässiger Schüler an einer Kunstschule. „Vielleicht wäre es klüger, seine Lehrer zu befragen." Der König liess die Kunstprofessoren kommen und fragte sie: „Ihr kennt den Schüler Caspar David Friedrich?" Sie nickten. „Es geht das Gerücht, er könne die Bäume, Berge, Ruinen und Gräber, die er malt, zum Reden bringen. Stimmt das?" Die Professoren schwiegen. Erst als man dem König eine Zeichnung von Caspar David Friedrich brachte und er selbst erlebte, was in ihm vorging, waren die Professoren bereit zu reden. „Wir haben heimlich alles untersucht," gestanden sie, „seine Tinte, seine Feder, sein Papier, die Gegenstände, die er malte, die Weise wie, die Orte wo und die Zeiten zu denen er malte. Wir haben seine Gegenstände, seine Zeichnungen und Bilder kopiert, gar besser gemalt, als er es konnte: ohne Wirkung. Wir wissen nicht, wie er das macht, Majestät. Nur etwas - es ist etwas gar Lächerliches - ist uns aufgefallen. Wenn wir beim Betrachten seiner Bilder ein Auge zudrücken und nur mit dem verbleibenden anderen schauen, dann schweigen seine Gegenstände. Man muss mit beiden Augen schauen, um seine Bildgeschöpfe sprechen zu hören und mit ihnen reden zu können."

„Ihr Dummköpfe" rief der König den Professoren zu und lachte dabei „Dann ist genau dies, dass wir die Stimmen der Geschöpfe dieses Künstlers vernehmen können, weil wir zwei Augen haben, das einzige, worin wir dem Einäugigen, der uns bedroht, voraus sind! Bringt den Friedrich in meine Stadt."

 

 
Selbstbildnis

Kaum war Caspar David im grossen Hafen der Königsstadt angekommen, wurde er auch schon von einer aufgeregten Menschenmenge erwartet. Er war erstaunt, dass man ihn da kannte. Eine Kutsche des Königs stand bereit und zwei Diener baten ihn, darin Platz zu nehmen. Auf der Fahrt durch die prächtigste Stadt, die er bisher gesehen hatte, vernahm er aus den Zurufen der Menschen, dass sie seine Bilder offenbar auch bereits kannten. Dies verwunderte ihn immer mehr. Er wurde ins Schloss geführt, in ein prächtiges Arbeitszimmer, in welchem der König schon wartete, ihn kurz begrüsste und ihm einen Stuhl anbot.

„Wir wollen nicht lange um den heissen Brei herumreden", begann der König, „Wir wissen von der seltenen Begabung, die Sie besitzen, die Dinge, die Sie malen, zum Reden zu bringen. Und Sie wissen bestimmt auch, dass unser Vaterland von einem einäugigen Riesen bedroht ist, der uns an körperlichen Kräften weit überlegen ist, nicht aber im Geiste. Deshalb habe ich eine Armee von Gelehrten zusammengestellt, um ihn mit der Kraft unseres Geistes, des innersten Wesens unserer Kultur, unserer Wissenschaft, Literatur, Musik und unserer Künste zu vernichten und so unser Vaterland und die ganze Welt zu retten." Caspar David überlegte, wie er dem König glaubhaft machen könnte, dass er von seiner Begabung nichts wisse. Doch bevor er antworten konnte, fragte ihn der König „ Caspar David Friedrich, wir fragen Euch, ob ihr Eure Kunst zur Rettung unserer Vaterlandes einsetzen möchtet. Ihr werdet in der geistigen Armee unseres Landes die trefflichsten Gelehrten, Denker, Poeten, Musiker und Künstler kennenlernen. Ihr Sold wird fürstlich und die Dankbarkeit des Volkes gross sein. Geben Sie mir bis morgen früh Bescheid und seien Sie solange mein Gast!„

Ein Kammerdiener führte Caspar David Friedrich zum königlichen Gästezimmer, in welchem an der Wand, gegenüber dem prächtigen Himmelbett, eine Sepia-Zeichnung hing, die er einst auf einer Wanderung gemalt hatte. „Es ist einfach unglaublich" sprach der Kammerdiener, als er bemerkte, dass Caspar David sein Bild erkannt hatte, „dass jeder Ast und jeder Stein, den man betrachtet, antwortet, wenn man ihn etwas fragt. Es ist, als stünde man vor einem göttlichen Orakel!" Damit verbeugte sich der Kammerdiener vor dem Künstler und liess ihn alleine zurück. Caspar David öffnete das hohe Fenster. Er schaute über die neckischen Wasserspiele des blühenden Schlossgartens zum Dächermeer der Stadt hinab; hinunter zum bunten Treiben auf dem Marktplatz, herüber zum Stadttor, über die Befestigungsanlagen hinweg ins weite Land hinaus, zu den Feldern und Wäldern, zum Horizont, der in einem fernen Nebel verschwamm; oder waren dies die Rauchwolken des Krieges?

Bisher hatte Caspar David immer geglaubt, das Erlebnis und die Gespräche mit den Geschöpfen, die er zeichnete, seien sein ganz privates Geheimnis. Er hielt es für Unmöglich, dass ein anderer Mensch sein Erlebnis teilen könnte. Doch nun schien sich dies Unmögliche tatsächlich zu ereignen. Jedermann, der die Zeichnungen betrachtete, nahm an seinem Geheimnis Anteil und konnte mit den Geschöpfen, die er abgebildet, reden und sie über das Leben befragen. Erstmals kam ihm die Besonderheit einer Begabung zu Bewusstsein, von der er absolut nichts wusste. „Weshalb ich?" fragte er sich. „Wozu?" Doch soviel er auch nachdachte, er konnte keinen Grund und keine Erklärung finden, und auch keine Antwort auf die Frage des Königs, ob er in der vaterländischen Armee des Geistes mitkämpfen wolle. In seiner Ratlosigkeit und Schlaflosigkeit entschied er schliesslich, sich selber zu befragen, nahm Zeichenfeder, Tinte und Papier hervor, stellte am Schreibpult einen Spiegel vor sich, daneben eine Kerze und begann, ein Selbstportrait zu zeichnen. Kaum hatte seine Feder die ersten Sepiastriche zu Papier gebracht, begann der andere Caspar David mit ihm zu reden:

„Was ist es, was Dich so beunruhigt?" fragte sein Spiegelbild.

„Mir scheint," antwortete Caspar David, "dass ich eine Begabung besitze, die mir plötzlich als Last einer Verantwortung bewusst wird. Ich werde von der Zeit, vom König und vom Volk gerufen, aber ich weiss nicht, ob es recht ist, dieses Geschenk in diesem Krieg einzusetzen?"

„Schau!" antwortete sein Gegenüber „Du weisst doch, dass der einäugige Riese nicht nur da draussen ist, sondern auch im Herzen jedes Menschen, indem er da wie ein Jäger auf die Dinge zielt, die Geschöpfe der Welt mit seinen eigenen Zwecken behaftet, sie verfolgt, benutzt und quält anstatt ihnen in Liebe verbunden zuzuhören.

"Ja ich weiss, dass der Einäugige auch in mir ist"

„Versuche also nicht, Dein Geschenk, das ewig Geheimnis bleibt, zu benutzen, es an äussere Zwecke zu versklaven. Schenke es einfach weiter. "

„Aber die Welt leidet doch! Das Volk leidet! Und ich habe doch zutiefst erfahren, dass gerade die vergängliche Kreatur, der Mensch im Angesicht und in der Verzweiflung seines Untergangs, seiner Nichtigkeit in der Zeit, getröstet und wieder aufgerichtet werden soll!"

„Ja, da magst Du Recht haben. Aber glaubst Du denn, dass dieser Trost und dieses Aufrichten des leidenden Menschen von Dir oder von deinen Werken komme und dass Du den Trost mithilfe deiner Begabung selber machen kannst? Was weisst Du schon vom Trost und der Gerechtigkeit?"

„Du hast Recht. Trösten kann nur Gott, so er will! Aber vielleicht ist Gott krank und schwach. Ich möchte ihm helfen zu helfen! Gott ist ohne den Arm des Menschen hilflos in dieser Welt."

„Das ist sehr edel von Dir gedacht.„ erwiederte das Spiegelbild, „Woher aber willst Du wissen, ob der Arm, den du ihm zur Verfügung stellen möchtest, der helfende ist, und nicht gerade der, der Gott totschlägt?"

„Das weiss ich tatsächlich nicht! Aber ich hoffe es."

„Nun also, Caspar David Friedrich: Du bist frei in Deiner Hoffnung und Deinem Glauben. Setz Dich nicht gefangen im Turm eines vermeintlichen Wissens. Entscheide Dich, wie Du es für gut und richtig hältst. Aber versuche nicht, mit dem Geheimnis und der Verantwortung einer Begabung zu taktieren, von der Du ganz gewiss nichts weisst."

Als das Gespräch, das noch lange weiterging, und das Selbstbildnis, das in alle Feinheiten seines Angesichts führte, beendet waren, tagte es bereits. „Wie habt Ihr Euch entschieden?" fragte der König. Caspar David antwortete: „Ich werde an Eurer Seite mitkämpfen, wenn Ihr mir weiterhin die Wahl der Waffen und der Rüstungen lässt, die ich zu diesem Kampfe tragen möchte." „So sei es!„ sprach der König, reichte ihm die Hand und fragte: „Welchen Lohn wünscht Ihr für Euren Dienst?" „Eure Majestät, ich wünsche mir, dass meine Mutter, meine beiden Schwestern und mein Bruder Johann Christoffer wieder lebendig zu mir zurückkehren und dass ich soviel Geld erhalte, dass ich in angemessenen Umständen meine Aufgabe in Euren Diensten erfüllen kann." „Was Euren Sold anbetrifft„ sprach der König darauf „werdet Ihr zufrieden sein. Was aber Euren ersten Wunsch betrifft, muss Euch das Versprechen Eures Königs genügen, dass er für seine Erfüllung beten wird."

 

 
Vermählung

Als Caspar David 44 Jahre alt wurde, geschah, was niemand, der ihn kannte, erwartet hätte. Seine Freunde wunderten sich sehr, da sie der festen Überzeugung waren, der einsame nächtliche Wanderer, der in seinem kahlen Zimmer, nur mit einem Mantel - gleich dem eines Mönches - bekleidet, malte, hätte für sich den Weg der Ehelosigkeit gewählt. Er heiratete aber im tiefsten Winter überraschend die Tochter eines Bürgers der Königsstadt. Und bald darauf baute sich das Paar mitten in der Stadt am Ufer des Flusses ein schönes Haus, von dessen Fenstern aus man die Schiffe kommen und gehen sah. Caspar David hatte es zu einigem Wohlstand und Ansehen gebracht. Seine Bilder waren im ganzen Land bekannt und begehrt. Ein Schimmer von Heiterkeit kam in seine zuvor dunklen Gemälde und Heiterkeit auch in sein Leben, denn seine Frau schenkte ihm zwei Mädchen und einen Knaben.

Das Glück der Ehe, aber auch die Unruhe des Zusammenlebens in der Familie, lenkten ihn ab, von den sonderbaren Wandlungen, die sich auch in der Welt draussen vollzogen hatten und von den Ahnungen auf noch grössere Umbrüche, die sich dort im Verborgenen vorbereiteten. Der einäugige Riese schien sich zurückgezogen zu haben. Und nun kamen die Truppen, die ihn verfolgt hatten, zurück mit erstaunlichen Errungeschaften, die sie dem Riesen im Kampf abgewonnen hatten. Gewaltige, stählerne Motoren, die riesige Schiffe ohne Segel mühelos bewegen konnten. Neuartige Fabriken mit schnellen, komplizierten und unglaublich produktiven Maschinen. Gaslaternen, die die Städte in der Nacht beleuchteten. Und es verbreitete sich gar die Nachricht, bald könne eine technische Vorrichtung mit nur einem gläsernen Auge die sichtbare Welt besser, schneller und wahrhaftiger abbilden als es der Mensch mit seinen beiden Augen und mit seinen beiden Händen könne. Einige Menschen erschraken, als sie dies hörten, denn ihnen schien, der einäugige Riese habe nun in Gestalt dieser Maschinen, Motoren und neuartigen Konstruktionen es endlich doch geschafft, über den Menschen zu siegen, ja, er würde gar begeistert in den Städten empfangen, in denen man sich zuvor noch vor ihm fürchtete, da man glaubte, er würde die Menschen vernichten. Nun, da er ihnen Nutzen zu bringen schien, sahen die meisten Menschen in dem neuen Aufbruch die Erfüllung ihrer langersehnten Wünsche und einen Segen für die Menschheit. Die Welt schien wieder dem Willen und der Vorstellung des Menschen gefügig.

Auch Kritik an Caspar Davids Bildern wurde nun zunehmend lauter und zahlreicher, und schliesslich rief der König nach ihm, er solle sich zu einer Unterredung im Schloss melden. Zum vereinbarten Zeitpunkt fand Caspar David dort den König, begleitet von einigen der bekanntesten Gelehrten des Landes, die ihn freundlich, aber kühl empfingen. Es ginge darum, eröffnete der König die Runde, herauszufinden, ob die Dienste des Malers Friedrich in seiner geistigen Armee noch notwendig seien. Die Zeiten hätten geändert, neue Gesichtspunkte sich ergeben. Damit übernahm der Bekannteste der Gelehrten, der seinen breitkrempigen Hut nicht abgenommen hatte, das Wort: „Wir haben uns geirrt, verehrter Herr Friedrich", begann er, „weil wir meinten, an dem Gerücht, dass die Gegenstände Ihrer Bilder uns etwas zu sagen hätten und wir mit Ihnen sprechen könnten, wahr sei. Man hat gar behauptet, Ihre Bilder seien dem Orakel von Delphi vergleichbar. Es hat sich nun aber gezeigt, dass es für diese Annahme keinerlei Beweise gibt. Ja, dass wir heute von den Wirkungen der Kunst verlangen müssen, dass sie allgemein zugänglich und wissenschaftlich fassbar sind, und dass es nicht genügt, wenn die Wirkung eines Kunstwerks bloss in der uneinsehbaren, obskuren Aura eines privaten Erlebnisses behauptet wird. Denn eine private Wirkung kann für alle Werke der Kunst, aber überhaupt für ausnahmslos alles behauptet werden. Damit aber wird in einem Volk nicht Gemeinsinn gefördert, nicht ein Streben nach fassbaren, verbindlichen und gemeinsam erfahrbaren Werten, sondern bloss Beliebigkeit, Selbstgefälligkeit und reaktionärer Eigensinn." Ob der Maler Friedrich etwas dazu entgegnen möchte, wandte sich der König an Caspar David. Er aber schaute nur in die Runde der Versammelten und sagte dann: „Ich habe dem nichts hinzuzufügen!" Man möchte aber festhalten, dass er selber niemals die vorgängig seinen Bildern zugesprochenen Wirkungen behauptet, sondern der König ihn persönlich gebeten habe, in seine Dienste einzutreten. „Wir betonen", kam ihm da der König entgegen, „dass Ihr bei uns nicht in Ungnade gefallen seid. Wir haben schon dafür gesorgt, dass Ihr einen anderen verdienstvollen Posten erhält." Damit erhob sich der Rektor der Kunstakademie und teilte Caspar David mit, man habe ihn zum Professor gewählt. Allerdings nur zum ausserordentlichen Professor. Denn, da er viel zu wenig in der Welt gereist sei, nicht in Rom und nicht in Paris, nicht in London oder St.Petersburg war, ja, aus seinem Vaterland nie heraus gekommen sei, könne man ihm, obgleich er sich in diesem Gebiet besonders hervorgetan habe, leider die Landschaftsklasse nicht übergeben, da das Reisen unbestreitbar zu den Grundvoraussetzungen der Landschaftsmalerei gehöre.

Als Caspar David später bei seinem Haus am Fluss ankam, wurde er schon von seiner Frau erwartet. „Was ist?" fragte sie. „Ach!" antwortete er: „Der Tross des Zeitgeistes zieht weiter."

 

 
Christophorus

Eines Morgens erwachte die Frau und sah, dass Caspar David noch immer schlief, was sonst nie vorgekommen. Er sah bleich aus, eingefallen, und er schwitzte. Als ob er die besorgten Blicke gespürt hätte, öffnete er sogleich die Augen und sprach leise: „Ja, ich bin krank. Aber sei ohne Sorge! Das wird sich bald wieder einrenken." Die Krankheit jedoch schleppte sich über Wochen und Monate dahin, bis der Kranke zu seiner Frau sprach: „Es ist die Ungerechtigkeit der Zeit, an der ich erkrankt bin, dass niemand verstehen will, wozu ich mein Innerstes und mein Bestes hergebe in meiner Kunst. Zynisch und misstrauisch bin ich gegen Alles geworden. Ich freue mich über jeden blutigen Aufstand in der Stadt, freue mich, wenn er anfängt, wenn die Scheiben klirren und die Rathäuser brennen und die Menschen schreien, und freue mich nochmals, wenn der Aufruhr niedergeschlagen, zertrampelt und die Führer hingerichtet werden. So billig ist mein Zorn geworden. So nichtig meine Freude. Es ist wohl an der Zeit, dass ich die untreue Stadt verlasse und auf einer Reise nach meiner Heimatstadt Greifswald und in die nahegelegenen Bäder Erleichterung suche. „

So machte sich Caspar David zu Fuss auf, wählte die halbvergessenen Wege, und kam in einer abgelegenen Gegend zwei Tage vor Greifswald an einen Fluss, über welchen keine Brücke führte. Am Ufer aber stand ein alter Mann. Wie man über den Fluss käme, fragte Caspar David den Alten. „Ich trage Dich hinüber" antwortete dieser. „Seit genau achtundfünfzig Jahren ist dies meine Aufgabe." Und tatsächlich nahm der Greis ihn auf die Schulter, watete mit sicheren Schritten durch den trüben Fluss, und setzte Caspar David auf der anderen Seite ab. Als der ihm ein Geldstück geben wollte, wies der Greis es lachend zurück: „Ich bin froh, dass wieder einmal jemand gekommen ist, den ich hinübertragen darf." Verwundert fragte Caspar David, wie es denn käme, dass er hier Dienst tue, wo doch kein Mensch in dieser Wildnis unterwegs sei. Er sei einst Domherr zu St.Nikolai in Greifswald gewesen, gab ihm der Alte zur Antwort. Es sei da ein Streit ausgebrochen zwischen der Kirche und der Seifensiederei, deren Gestank die Kirchgänger belästigte. Man habe gestritten um die Frage, ob die Seife oder Jesus Christus die Menschen rein mache, der Schein der Kerzen oder nur Gott persönlich Licht bringen könne ins Dunkel des Menschen, und da man keine Lösung gefunden habe, vielmehr die Bürger beides gewollt, hätte man einen Boten zum Vogel Greif geschickt, um zu erfahren, wer im Recht sei. Und der Bote sei zurückgekommen mit der Mitteilung des Greifen, das nächste Kind, das geboren würde, werde diese Frage beantworten. Das Kind sei tags darauf aber ausgerechnet in der Seifensiederei zur Welt gekommen, was eigentlich alle für eine Dummheit oder einen Scherz hielten.

„Dann hast Du jetzt eben diesen Scherz und diese Dummheit über den Fluss getragen", sprach Caspar David, „denn ich bin dieses Kind, das im Gestank der Seifensiederei und des Streites zur Welt gekommen bin. Aber sprich weiter: Wozu bist Du hier?"

Der Alte fuhr fort: „Der Bote brachte eine Feder des Vogel Greif mit und war reich beschenkt worden. So dachte ich in meinem jugendlichen Übermut, ich wolle auch den Greifen aufsuchen, um ihm die drängendsten meiner Fragen zu stellen, zum Beispiel, weshalb es Kirchen geben müsse, obwohl die Menschen nicht an Gott glauben könnten, weshalb das Kloster Eldena aber eine Ruine sei, wo doch viele sich danach sehnten, dort in Gemeinschaft zu Gott zu finden. Und natürlich hoffte auch ich, beschenkt zurückzukehren. Als ich an diesen Fluss kam, führte keine Brücke über ihn. Am Ufer aber stand ein Mann. Als ich fragte, was er hier täte, sagte er mir, er trüge mich ans andere Ufer. Doch als er in der Mitte des Flusses stand, warf er mich ins Wasser mit den Worten: „Jetzt nimm Du meinen Platz ein!" Und genau dies tue ich jetzt noch." „Weshalb bist Du nicht weggegangen" fragte Caspar David. „Ich konnte nicht, solange ich weggehen wollte. Und jetzt, da ich eigentlich könnte, will ich nicht mehr weggehen. Ich lebe hier. Ich habe meine Aufgabe. Ich freue mich, dass mein Vorgänger frei ist und freue mich dazu noch, dass auch ich hier frei bin. Doch nun erzähle Du mir, wie es Dir ergangen ist. Welche Antwort hast Du denn auf die Frage gegeben, wer in Greifswald Recht hätte?"

„Ich weiss von dieser Aufgabe und dieser Frage, die ich zu beantworten habe, nichts. Du bist der erste, der mir davon erzählt. Aber ich werde nun hingehen und ihnen sagen: Im Allgemeinen hat niemand recht. Im Einzelnen aber kann es sein, dass einer rein wird, wenn er sich mit Seife wäscht, ein anderer, indem er in die Kirche geht, ein dritter, indem er beides tut, ein vierter aber, indem er beides nicht tut und ihm Gott ohne weiteres hilft. Die Frage aber ist: Kann auch der rein werden, der sich nicht waschen will? Und was ist mit dem, der alles versucht und dem nichts und niemand hilft, auch nicht Gott?"

„Das ist wohl wahr", sprach der Alte „aber gehe Du besser nicht nach Greifswald um das zu sagen, denn diese Antwort gilt da nicht, wo nach dem Recht im Allgemeinen gefragt wird. Im übrigen hast Du eine der Möglichkeiten, wie ein Mensch rein werden könnte, unterschlagen: Ein Sauberer kann rein werden, indem er sich beschmutzt."

So sprachen sie noch lange, bis Caspar David den Alten bat, ihn nochmals über den Fluss zu tragen, und er gesund zu Frau und Kindern in die Königsstadt zurückkehrte.

 
Der Greif

Wieder und wieder stiegen schwarze Wellen des Zornes in Caspar David hoch, und sie trafen meist diejenigen, die ihm am nächsten standen, die wenigen, die noch zu ihm hielten. David hatte sich aus seinem Namen zurückgezogen und der finstere Grübler Saul an seiner Stelle Platz genommen. Als er dies merkte, entschied er, nun endlich den Vogel Greif persönlich aufzusuchen, der ihm dies Unglück und dieses ungerechte Schicksal eingebrockt hatte, und machte sich auf den Weg. Als er aber zum Fluss kam, sah er, dass der Alte gestorben war und sein Leichnam von Krähen umflattert am Ufer lag. Caspar David schaufelte ihm ein Grab, beerdigte ihn und watete durch den Fluss. In der Mitte des Flusses aber wurde die Strömung so stark, dass sie ihn mitriss und er viele Stunden schwimmend nicht mehr aus ihr freikam. Erst gegen Abend geriet er in der Nähe einer Stadt in eine Fischreuse, und ein Fischer, der am Ufer wachte, befreite ihn aus dem Korb, in dem er gefangen war. „Bitte verschone mich!" flehte der Fischer, als Caspar David frei war, und dieser fragte verwundert, weshalb er Angst habe? Da berichtete ihm der Fischer, es sei einst vor vielen Jahren schon ein Ertrinkender in die Reuse geraten, und als er ihn befreit hätte aus dem Korb, sei der Gerettete über ihn hergefallen, hätte ihn blutig geschlagen und aufs Übelste beschimpft, was ihm einfalle hier eine Reuse zu bauen, er hätte doch im Korb ertrinken können. „Ein Dummkopf und ein Undankbarer nenne ich den" antwortete Caspar David, bedankte sich beim Fischer und fragte ihn nach dem Weg zum Vogel Greif.

Nach einer weiten Reise gelangte er schliesslich zu einer Hütte, in welcher ein uraltes Mütterchen wohnte. Da fragte er, ob hier der Vogel Greif wohne. „Ja, der wohnt hier" sagte es. „Er ist aber ausgeflogen, und das ist Dein Glück, denn sonst würde er dich gleich in Stücke reissen und auffressen. Mach, dass du fortkommst!" Caspar David aber liess sich nicht einschüchtern. Auch als das Mütterchen ihn anflehte, sich wenigstens unter dem Bett zu verkriechen, und es sich anerbot ihm bei der Beantwortung seiner Fragen zu helfen, lehnte er ihr Ansinnen schroff ab und sagte: „Ich habe keine Angst vor dem Vogel Greif. Soll er mich fressen, dieser Geier, wenn er mag! Dann weiss ich wenigstens, mit wem ich es zu tun habe, der mir mein trauriges Schicksal bescherte. Ich habe ihm schon oft in meinen Träumen und Bildern in die Augen geschaut."

Bald darauf kam der Vogel Greif zurück und sah einen Menschen vor seiner Hütte sitzen. Sogleich stürzte er sich auf ihn, um ihn aufzufressen. Da aber fiel die Schachtel mit der Schreibfeder zu Boden, und als der Greif sah, dass es eine seiner Federn war, liess er vom Menschen ab. „Was suchst Du hier, Elender?" herrschte er den Menschen an. „Ja, Elender!" entgegnete Caspar David. „Das sagst Du sehr treffend. Aber Dir habe ich mein Unglück zu verdanken. Du hast mich als Orakel für den Streit der Menschen in die Welt geschickt. Man hat mich dort aber nur verlacht und verhöhnt, von Geburt an, dann hat man mir den Glauben genommen, meine Bilder benutzt für die schnöden Machtgelüste der Eingebildeten, und nun, da mich keiner mehr brauchen kann, werfe ich mich eben selber dem Geier, der so mit meinem Leben spielte, vor die Krallen. Hier bin ich."

„Nun gut", sprach der Greif, „ Ich werde Dir antworten, aber Du musst etwas wissen: Es wird Nacht werden über Deinem Geist, so dass Du stumm und dunkel sein wirst für alles in der Welt und mit niemandem darüber reden kannst." „Ich habe nichts zu verlieren!" entgegnete der Mensch. „Undankbarer" fuhr in der Greif an. „ Hat Gott Dir nicht Deine Mutter, Deine Schwestern und Deinen Bruder Johann Christoffer wieder geschenkt. Aber ganz neu, sodass sie deine Frau und Mutter, deine zwei Töchter und dein Sohn sind, denen Du Vater bist. Meinst Du denn, es schmerze Deine Familie weniger, Dich zu verlieren, als es Dich schmerzte, Mutter und Geschwister zu verlieren? Ich habe Dich nicht als Orakel nach Greifswald geschickt. Ich habe den Menschen ein Stück Wald gerodet, damit sie nicht in der Dunkelheit leben müssen, sondern mündig untereinander klären und bestimmen können, wie es ihnen zu Leben beliebt. Aber was tun sie? Kommen mit allen lästigen Fragen daher und wollen immer von mir wissen, wer Recht hat. Sie schwindeln sich gar in mein Haus ein, reissen mir Federn aus, posaunen die Geheimnisse, die sie von mir ergaunert haben, in die Welt hinaus und vernichten sie dadurch. Die meisten Menschen aber, die ich in Stücke reisse und auffresse, sind solche wie Du, die wissen wollen, was der Sinn ihres Lebens und ihres Schicksals sei. Aber denen sag ich wie Dir: Das geht Dich nichts an! Du heisst doch Caspar, Hüter des Schatzes. So hüte Deinen Schatz! Und versuche nicht dieses Geheimnis zu benutzen und zu begreifen. Und Du heisst doch auch David, der Geliebte, der doch auch Hirte war und nicht Jäger. Im übrigen: Du meinst wohl, ich sei Gott, Du Irrgläubiger! Doch bin ich nur sein Diener, der das Gesetz des Schicksals vertritt und darüber wachen soll, dass jeder Mensch, jeder Staat, jedes Geschöpf dieser Erde das persönliche Geheimnis einer Aufgabe, einen einzigartigen Weg in der Welt erhält und dazu auch die Mittel, diese einzigartige Aufgabe auf dem Weg durch die Zeit zu bewältigen."

So redeten und stritten die beiden die ganze Nacht. Als der Greif eingeschlafen war, schlich sich Caspar David davon und machte sich auf den Heimweg. Als er aber aus dem Wald trat, merkte er, dass es draussen auf den Feldern nicht mehr hell wurde. Die Menschen schnitten im vollem Mittagslicht den Weizen, ihm aber schien es, die Welt sei in Tinte getaucht. Die Menschen blieben unkenntlich und sprachen eine andere Sprache. Er vernahm sie zwar, wollte ihnen etwas sagen, aber sie konnten ihn nicht hören. Er wollte ihnen Freude bereiten, aber sie konnten sich nicht freuen. Er sang ein Lied, aber niemand sang mit. Als er nach Greifswald kam und über den Markt ging, kannte man ihn nicht mehr. Seine Frau und Kinder trauerten um ihn, da er versunken und umnachtet war. Und wenn er in uns nicht gestorben ist, lebt er noch heute.

 

 
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