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Daniel Ambühl   Bildweg   Wege zur Heimat   Das Gesicht von Zürich   Dokumente

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x Das Gesicht von Zürich

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Begleitheft zum dritten der Zürcher "Wege zur Heimat" 1998


 

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Inhalt

1.  Das Profil  >
2.  Die Fläche des Gesichts 
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3.  Der Mund 
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4.  Die Brücke 
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5.  Die Nase 
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6.  Das Wetter 
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7.  Die Menschen 
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Das achte Bild  >
Essay: Wagnis zur Heimat  >

 

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Das Profil

Das Lebendige der Heimat ist zusammengefasst in der vertrauten Linie des Horizontes, in den Konturen der Berge, von denen die Bäche und Flüsse dem Zürichsee zuströmen, an dessen Ausmündung in die Limmat wir weilen. Wir erleben, wie die Wolken an den Erhebungen der Berge sich ihrer Last des Wassers entledigen und damit den Durst der Welt nach Zeitlichkeit löschen.
Der Bankmakler schaut aus seinem Büro am Mythenquai erstaunt auf diese Signatur des Gebirges hinter der glatten Fläche des Zürichsees. Sie erinnert ihn ferne an das Auf und Ab der Börsenkurse. Vielleicht schaut er manchmal ängstlich zu dieser Börsenkurve der Heimat hin. Erheben sich die Berge nicht, um wieder zu fallen? Wenngleich: leben wir nicht auch vom Gefälle? Der Arzt sieht in der Horizontlinie sein Kardiogramm; der Lastwagenchauffeur das Diagramm seines Fahrtenschreibers, und der Poet schaut im Verlauf der Grenzlinie zwischen Erde und Himmel die Silhouette eines geliebten Gesichtes. Es ist, als habe die Heimat mit den Profilzügen der Berge und Täler, Wälder, Häuser und Türme ihre ewige Unterschrift um uns gezogen.
Jede Sicht des Menschen sucht den Horizont, sucht die lebendige Linie zwischen Erde und Himmel, zwischen Diesseits und Jenseits, Ich und Du, Mensch und Welt, Haupt und Körper. Dass da eine Trennung ist, ist offensichtlich. Es gibt sie in jedem Menschen, in jeder Ebene: In der Ebene des Körpers zwischen Eigenem und Fremdem als Grenze der Haut; in der Ebene des Denkens zwischen Verständlichem und Unbegreiflichem als Grenze des Staunens; und im Glauben schliesslich als Spaltung von Gewissheit und Furcht in der Grenze der Hoffnung.
Der Horizont markiert eine ursprungshafte Entschiedenheit. Auf unseren vergangenen Wegen zur Heimat fanden wir diese Entschiedenheit ausgedrückt im Bild der Stadtheiligen, deren Häupter vom Körper zwar getrennt sind, deren Körper aber das Haupt zu sich nehmen. Mit derselben Entschiedenheit steht der letzte Buchstabe des Alphabetes am Anfang des Namens Zürich. Das Z markiert die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Schweigen.

 

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Die Fläche des Gesichts

Den grösstmöglichen Kontrast zum bewegten Profil des Horizontes bildet die ruhende Fläche des Zürichsees. Der Gegensatz zwischen Berg und See ist Konkurrenz und Streit in Liebe. Es scheint, als möchten die Berge mit ihrer Dramatik einzig die Ruhe des Sees zur Geltung bringen; und als wolle der See mit seinem glatten Spiegel einzig die Dramatik der Berge erhöhen. Zugewandt sind sich Berg und See. Die Fülle der Wolken entlädt sich am Horizont und schenkt der Erde Zeit. Die Unrast der Zeit jedoch - durch das Hinterland herabeilend wie ein Sturzbach - durchpflügt zuweilen die Erde, reisst sie auf und zerwühlt sie. Doch die vom Geschiebe getrübten stürmischen Wasser kommen allmählich im Stau des Sees zur Ruhe und klären sich. So bringt der Zürichsee eine Abgeklärtheit, Ruhe und Gelassenheit ins Gesicht von Zürich. Ja, der See schenkt und behütet in dieser Stadt ein Idyll von Entspanntheit, Bedächtigkeit und Entrücktheit. Die Zeit scheint hier still zu stehen.
Zürich ist ein Ornament der natürlichen Staumauer; als Tempel des Staus auf den Endmoränen des Linthgletschers errichtet. Die Stadt bietet dem Fliessen und Fluten Einhalt, zwingt das Zeitliche zu Haltung, Ruhe und Einkehr. Zürich ist deshalb seit jeher ein Hort für alle diejenigen, die fortgerissen und weggeschwemmt wurden, wie entwurzelte, weggeflösste Stämme, die endlich im Kamm vor den Turbinen der Wasserkraftwerke landen und früher in den Reusen der Fischhäuschen hängenblieben. Der Schub und Druck des Wassers ist ein Segen für Zürich, so wie der Stau und die Ansammlung des Geldflusses auf den Konten der Banken. In den Staubecken des Geldes wird aber nicht das Geld verbraucht, sondern lediglich aus seinem Gefälle die Energie entnommen, die Zürich am Leben erhält. Diese Tatsache kann freilich von zwei Seiten betrachtet werden: Einerseits sagt man, Zürich sei eine Parasitin des Schöpferischen, weil sie das Geschöpfte am freien Fluss hindert und es nur immer über ihre eigenen Mühlen leiten will. Andererseits sagt man, Zürich sei ein Wirt des Schöpferischen, weil er dem Geschöpften einen Stauraum zur Klärung bietet. Es wird wohl beides gelten: Zürich kann mit dem Geschöpften nichts anfangen, nur mit seinem Gefälle. Zürich hat diese Gefälligkeit und gefällt deshalb auch den meisten Bewohnern und Besuchern. Die Staumauer lebt nicht vom Wasser, sondern in der Weise, wie sie einerseits dem Druck des Wassers standhält, es andereseits gezielt so entlässt, dass es nicht über ihre Krone schwappt und die Behausungen, die dort auf der Mauer gebaut wurden, nicht niederreisst.

 

Der Mund

Zürich ist ein Pförtner am Ort, wo der See ausmündet in die Limmat. Das ruhende Wasser kommt in Bewegung. Früher hiess die Limmat einfach Aa, was soviel wie Fluss bedeutet. Daher steht das A im Alphabet an erster Stelle¸ als erster Laut der Sprache, erster Impuls, erster Atemzug, der zum Fliessen und Strömen der Zeit anstösst, als Ton des ersten Lebenshauches. Die Limmat wird als Aa ausgesprochen, aus dem Munde geäussert, zwischen den Lippen der beiden Stadthälften hindurch, ausfliessend und gebärend. Das in sich ruhende, träge Spiegelbild der Ewigkeit - die glatte Oberfläche des Sees, die den Himmel reflektiert - kommt so in Zürich zur Sprache und in Bewegung.
Der Mensch lässt sich gerne an solchen Orten des Überflusses nieder. Dass dies allein praktischen Erwägungen zuzuschreiben sei, weil die besondere Lage Zürichs guten Fischfang, einträgliche Geschäfte, Zolleinnahmen wichtiger Handelsstrassen, also Wohlstand und Sicherheit versprach, ist eine historische Sicht, die nicht von der Hand zu weisen ist. Wo aber nur solche kausalen, praktischen Überlegungen gelten, wird gerne vergessen, dass der Überfluss immer schon da war und nicht erst erschafft werden musste. Manchmal hört man es nicht gerne, dass man den Segen des Überflusses geschenkt erhalten hat. Man will ihn lieber als Verdienst eigener Leistung sich selber zuschreiben.
Von viele Dingen kann man behaupten, sie seien überflüssig: Die Zeit, das Sprechen des Menschen, oft auch sein Nachdenken, vieles was er tut. Erst recht aber ist die Liebe überflüssig. Ja, sie ist der eigentliche Luxus des Menschen, weil die Liebe nicht gemacht, nicht bewiesen, nicht widerlegt, nicht hergestellt, nicht angehäuft, nicht besessen und auch nicht verdient werden kann. So nichtig sie manchmal scheint; sie ist das Fundament des Lebens.
Wenn sie da ist, in der Zuwendung von Mann und Frau, in der Zuwendung von Geist und Materie, dann sprudelt Leben aus ihr, wie aus einer klaren Quelle. Das im Ewigen verstaute Leben kommt klar und durchsichtig in Bewegung, hinein in Zeit und Raum dieser Welt. Das Leben mündet aus dem See des Ewigen aus. So ist das Leben aus dem Überfluss der Liebe entstanden. Am liebsten lässt sich der Mensch an diesem Überfluss nieder.

 

 

Die Brücke

Zürich ist eine Brückenstadt. Gäbe es hier keine Brücken, würden wir schmerzvoll merken, was es hiesse, auf einer Seite des Flusses, einseitig, zu leben und vom anderen Ufer, dem Nächsten, getrennt zu sein, dazu verurteilt, nur von ihm zu träumen.
Zwischen Dingen, die zusammengehören, werden früher oder später Brücken geschlagen. Diese Brücken vollziehen etwas, was als Zusammenhang längst angelegt ist. Schon der erste Mensch, der einst am Ufer der Limmat am Orte Zürichs ankam, hat sich gewünscht, auf die andere Seite zu kommen, aber auch von dort wieder zurückkommen zu können in sein geschütztes Dorf, ins Haus der Ehe, zu sich. Dieser erste Mensch hat die Brücke schon gebaut: In seinem Wunsch, in seiner Sehnsucht. Zwar konnte er damals diese Brücke noch nicht real und materiell bauen; es scheint aber als sei der Wunsch der Brücke über die Brücken der Geschlechter von diesem ersten Menschen zu seinen Söhnen, Enkeln zu den Erbauern der Brücke weitergereist und zu uns, die wir nun über die Brücke gehen, als sei sie schon immer da gewesen.
Selbstverständlich sind die Brücken. Und selbstverständlich ist auch, dass es immer mehr wurden; eine ganze Reihe von Brücken, die nur ausdrückt, dass die beiden Teile der Stadt zusammengehören wie die beiden Kammern des Herzens oder wie die beiden Hälften des Hirns. Immer sind solche Verbindungen geschützt, verborgen und behütet. Behütet sind die Brücken innerhalb der Mauern der Stadt, behütet das Zusammensein von Mann und Frau im Haus der Ehe; ja, selbst bei den Bäumen ist die Verbindung von Wurzel und Krone geschützt im harten Holz des Stammes.
Wenn die beiden Seiten des Menschen so zusammen sind, dann ist das Fliessen der Zeit überbrückt. Aus gefügten Balken und Steinen sind die Brücken gebaut, und im Fels sind sie verankert, damit das Wasser sie nicht unterspült. So ist dem Fliessen der Zeit, die uns Grenzen setzt, noch ein anderes Fliessen zugesellt: Das Hinaus- und Hinübergehen, aber auch das Zurück- und Heimkehren des Menschen über die Zeit hinweg. Im Gesicht der Stadt sind die Brücken das Zusammensein der zwei Augen des Menschen in diesem Schauen von Heimat.

 

 

Die Nase

In Zürich zeigen Kirchtürme zum Himmel. Das ist noch eine Skyline, Linie der Verbindung mit dem Himmel. In der Gründungslegende der Fraumünsterkirche wird gesagt, dass am Ort für den Kirchbau ein grünes Seil vom Himmel hing. Solche Seile sind die Türme, und in den Türmen sind es wiederum die Seilzüge der Glocken, die im Himmel läuten, aber in den Gassen zu hören sind. Glocken der Heimat. Wie die Kühe mit dem Klang ihrer Glocken von ihrem Glück erzählen, dass sie zum Menschen gehören, zum Menschen, der die ganze Herde, aber auch jedes einzelne Tier pflegt und hegt und schützt, so lassen die Menschen die Glocken vom Kirchturm erklingen: Sie erzählen damit von ihrem Glück, dass sie zu Gott gehören, der alle Menschen, aber auch jeden einzelnen Menschen pflegt und hegt und schützt. Die Kirchglocken rufen den Menschen zur Sammlung, nicht nur in Freude, auch wenn es brennt in der Welt.
Im Kirchenschiff sitzen die Menschen, wenn sie sich sammeln. Auf Bänken sitzen sie in diesem Schiff. Aber es sind nicht Bänke, auf denen man rudern muss. Ist nicht das Kirchenschiff das ruhendste aller Schiffe? Eben weil es nicht in der Zeit ankert, sondern mit einem grünen Seil verankert ist. Es ist ein Ort, um zu werken und zu essen und zu lieben in dieser Welt. Ja, in der Kirche kann man leben. Man kehrt dort immer wieder ein, wie in einem Wirtshaus, wo man sich vom Worte nährt, das da aufgetischt wird, wie in einem Wortshaus.
Vieles kann Kirche sein für den Menschen, Ort der Sammlung, Zuflucht aus der Bedrängnis durch die Zerstreuung: Ein Zimmer kann Kirche sein, ein Wartsaal in einem Bahnhof, ein Auto, ein Blick, eine Geste, das Zusammensein mit dem Freund, mit der Familie. Wie aus der Zeitlichkeit enthoben sind solche kirchlichen Momente. Der Mensch hat in einem Schiff Zuflucht und Geborgenheit gefunden, das ihn über die Zeit, über die Wellen der Zeitlichkeit trägt. Der Mast mit dem Segel zeigt wie ein Pfeil zum Himmel, von wo die Gemeinschaft der Menschen an Bord durch den Wind des Geistes ihre Bewegung empfängt.
Wie ein Kirchturm ist dieser Mast im Kirchenschiff. Die Kirche - wie immer, wo immer, wann immer - ist Heimat, die uns nährt für die Reise in der Zeit. Im Gesicht von Zürich sind die Kirchtürme wie Nasen, die den Ort befestigt, an dem wir Luft holen und ausatmen können.

 

 

 

Der Regen

Das Wetter hinterlässt Spuren im Gesicht. Im Gesicht des Menschen, aber auch im Gesicht der Heimat. Das Wetter steht in feiner Verbindung mit allem, was unter ihm geschieht. Es äussert sich darin, wie die Häuser gebaut, wie die Vorräte gelagert, die Kleider beschaffen sind. Das Wetter schenkt der Heimat eine einzigartige Stimmung. Erst im Gesicht des Menschen wird diese Stimmung aber deutlich. Von weit her spricht uns das Wetter an. Der Wind trägt uns Wolken zu, die vom Süden, Norden, Osten, Westen kommen; vom Süden als Föhn, vom Norden als Bise; vom Westen als Wolkenschwamm des Meeres, vom Osten als die Trockenheit des Hinterlandes. Zürich ist Weltstadt wegen dieser Winde.
Die Wetterlagen der Geschichte haben viele Menschen hierhergeführt. Aus allen Ländern der Erde wurden Menschen hierher geweht. Das Wetter steht nicht still. Manchmal überrascht ein Sturm den Menschen, der gerade draussen unterwegs ist. Er findet keinen Unterstand. Der Regen prasselt auf ihn nieder. Schutzlos wird er überall nass. Die Kleider kleben an seinem Leib, er friert. Oft war Zürich ein Schirm für solche durchnässten Menschen. Wenn dem Menschen die Zeit auf den Leib rückt, ihn bedrängt und verfolgt, dann ist Zürich manchmal wie eine Ofenbank der Ewigkeit.
Wenn der Mensch die Liebe kennt, wenn er von seiner Ofenbank weiss, dann springt er glücklich von Pfütze zu Pfütze und singt im Regen. Von ganzem Herzen geniesst er das Glück, dass seine Liebe in Zeit und Raum, in Fleisch und Blut, duftend und bewegt da ist. Dass der Regen schön macht, ist dann offensichtlich. Der Mensch geniesst den Überfluss der Zeit.
Das Gesicht von Zürich macht eine Stimmung deutlich, dass man sich gegen die Fluten und das Prasseln der Vielheit unterstellen kann. Man ist eingerichtet, diese Überflutung zu stauen und gezielt abzuleiten, um die Häuser trocken zu halten. Und wenn jemand leidet unter der Nässe und Überflutung und dem nicht enden wollenden Regen, dann spricht das Gesicht von Zürich: Der Regen reinigt die Welt. Es ist, wenn es regnet, als dusche die Welt und mache sich sauber, schön und bereit für den nächsten Sonnenschein.

 

Die Menschen

Die Heimat ist Heimat wegen der Menschen, die in ihr anwesend sind. Es gibt Heimat nicht als Fläche auf einer Landkarte, nicht als System der Verwaltung, nicht als Form des Regierens, nicht als Fahne und Wappen, nicht als Sammlung symbolischer Idole. Heimat geht vom lebendigen Menschen aus. Die Demokratie bringt zum Ausdruck, dass sich die Autorität der Führung in der Gemeinschaft der lebendigen Menschen verborgen hält. Das Volk ist das Gesicht, hinter welchem sich das Geheimnis seiner Lebensführung versteckt hält. Das Gesicht des Volkes bringt aber gerade dieses Geheimnis zu seinem deutlichsten und gültigsten Ausdruck. Das Gesicht offenbart Heimat.
Das Zusammensein der Menschen geht immer von der Ehe aus und von der Familie. Die Ehe ist der Bund, der zwischen Mann und Frau, Geist und Materie, Himmel und Erde, geschlossen und vollzogen wird. Die Familie ist das Gefäss, in welchem dieser Bund mit seinen Kindern beheimatet ist. Alles Menschsein kommt aus dieser Familie und kehrt immer wieder zu ihr zurück.
Überall könnte Ehe sein: Auch in der Wirtschaft, wenn sie die Ehe nicht nur als Zweck betrachtet, um möglichst viele nützliche Kinder zu produzieren. Immer muss ich beim Slogan "Hier arbeitet ihr Geld" an den Satz denken: "Hier arbeiten ihre Kinder!"
Das Leben in einer Familie schöpft aus der Quelle des Vertrauens. Familius heisst lateinisch nicht mehr als "vertraut". Aber auch nicht weniger. Jedem Menschen sind Vater und Mutter anvertraut. Die Eltern sind ihrerseits getraut. Sie sind getraut, selbst wenn sie keinen Trauschein haben. Sie haben sich getraut, zusammen zu sein. Zusammensein ist schon Treue. Mann und Frau haben den Bund gewagt. Deshalb sind wir selber in dieser Welt, und deshalb können wir selber wagen mit unserer Welt einen Ehebund zu schliessen, unserer Heimat zu vertrauen, familiär zu werden mit den Menschen.

In Zürich stehen zwei Bäume, zwischen denen eine Hängematte gespannt ist; darin dürfen wir auch einmal nur sein, nichts tun und Ruhe finden

 

 

 

Das achte Bild

Im Gesicht des Menschen hat Heimat ihr gültiges und klares Antlitz. Es verbindet das Profil, die Linie der Entwicklung, mit der ruhenden Fläche des Gesichts. Die zeitliche Entwicklung der Heimat ragt gleichsam aus ihrer ewigen Ruhe heraus. Das Gesicht schliesst den Bund zwischen Profil und Fläche. Im Gesicht ist alles Bund: Der Mund, das Zusammensein der Lippen öffnet sich zum ersten Lebenshauch, zum Fluss der Aa, zum Gespräch, zur Geburt. Das Zusammensein der Augen öffnet dem Menschen den Blick in Raum und Tiefe dieser Welt. Im Zusammensein von Einatmen und Ausatmen, im Schutz der Nase, verbindet sich der Mensch mit dem himmlischen Duft.
Die Stimmung im Gesicht des geliebten Menschen ist familiär.

 

 
Wege zur Heimat

Essay von Thomas Primas

Das Wagnis zur Heimat
oder
Das Gesicht der Ewigkeit


1


"Ein Menschengesicht schaut ein anderes an, - es spürt, dass zugleich mit ihm die Ewigkeit das andere Menschengesicht anschaut, und sobald es das spürt, schliesst es die Augen; es will nicht zugleich mit der Ewigkeit schauen. Doch kaum hat es die Augen geschlossen, so fühlt es, dass es nun selber von der Ewigkeit angeschaut wird, es ist ihm, die Lider würden durchsichtig, da die Ewigkeit darauf schaut. Es öffnet die Lider und schaut wieder auf das Menschengesicht gegenüber, und jetzt, jetzt scheint es ihm, die Ewigkeit sei mit ihrem Blick dort weggegangen, - und die Ewigkeit ist auch weggegangen, damit das Menschenauge sich getrauen kann zu schauen. Demütiger als zuvor schaut es nun hinüber zum Gesicht, von dem um seinetwillen Gottes Blick weggegangen ist. Und so, in diesem Rhythmus, in dem bald das Menschengesicht sich versteckt vor der Ewigkeit, bald die Ewigkeit sich versteckt vor dem Menschengesicht, in diesem Rhythmus schaut Menschengesicht und Menschengesicht sich an.
Wo aber die Scheu ist, da ist auch das Schweigen. Und so ist um das Menschengesicht, um das wahre, auch das Schweigen. Es ist, als seien alle Worte schon von einem Anderen, Grösseren gesagt worden. Das Gesicht horcht hinein in dieses Schweigen, als ob in dem Schweigen die Worte jenes Anderen, Grösseren noch nachhallten, und wenn es redet, ist es, als spräche es nicht das eigene Wort, es ist als ob es das Wort, das es aus dem Schweigen gehört hatte, nur laut nachredete. Aber alle anderen Worte, die nicht mehr gehört werden konnten, scheinen in der Tiefe das gesprochene Wort zu begleiten, und darum ist das Wort voll und tief.
Das Menschengesicht steht so klar da, als sei alles Geheimnis verurteilt worden, hinter der Klarheit versteckt zu bleiben. Da steht nun das Geheimnis hinter der Klarheit, wartend, dass es an die Reihe komme, im Gesicht zu sein. Man sieht hinter der Klarheit das Geheimnis andrängen. Manchmal scheint es, als ob das Geheimnisvolle, ungeduldig im Warten, die Klarheit vortreibe, - und es wird das Gesicht durch das Geheimnis noch klarer. Das Menschengesicht ist klar und geheimnisvoll zugleich, so wie Gottes Wesen auch ist: klar und geheimnisvoll zugleich.
Das Auge des Menschen ist der Ort, wo sich die Ewigkeit am weitesten nach vorne in die Gegenwärtigkeit gestellt hat. Wie die letzte Wand, dünn, durchschimmernd schon, erscheint das Auge, die letzte Wand, welche die Gegenwärtigkeit von der Ewigkeit trennt. Schliesst sich ein solches Auge, so ist es, als kehre die Ewigkeit wieder zu sich selber zurück."

Max Picard "Das Menschengesicht"


2


Heimat ist das Gesicht der Ewigkeit. Heimat ist der Ausdruck eines kaum Worte findenden Wunsches nach Nähe, eines Wunsches, der nur im Eheschluss von Nähe und Distanz seine Erfüllung findet. Dieser Bund des Lebens lässt sich in der Heimat nieder wie die zwei Augen im Gesicht und gibt ihr Raum und Tiefe.
Ewigkeit ist nicht ein Fernes; sie ist nah, sie ist die Nähe selbst, die sich in die Weite der Welt wagt, in Raum und Tiefe, um die Welt zu ihrem Ebenbild zu machen. Die Ewigkeit ist die Insistenz des Wunsches, sie ist der beharrliche Wunsch nach Nähe, die demjenigen, dem sie nah sein möchte, Freiheit schenkt als Raum und Zeit, als Raum und Tiefe, als Distanz zur Beharrlichkeit der Nähe. In dieser Freiheit sind Mensch und Welt Ebenbild, Heimat und Gesicht der Ewigkeit.
Eine Scheu ist da gegenüber dieser Freiheit, denn sie ist unantastbar. Die Scheu, welche die Nähe gegenüber der Freiheit hat, gönnt ihr das Schweigen. Es ist nicht das Schweigen der Worte oder der Gesten, nicht das erstarrte Schweigen der Angst, nicht das selbstverlorene des Genusses. Die Nähe schweigt, senkt das Gesicht, senkt den Blick, so dass der Mensch es wagen kann zu schauen und es wagen kann zu sprechen. So schweigt Gott. Und wir, die Menschen, können dann wagen zu schauen und zu sprechen und sogar zu schweigen, weil Sein Schweigen Freiheit wünscht und gönnt. In diesem Schweigen horchen wir hinein in Raum und Tiefe, ob da ein Nachhall zu ahnen sei des nahen Wortes, des nahen Blickes, der uns die Augen schliessen liess aus Scheu.
So schweigt Gott, die Nähe und die Ewigkeit. Und wir, die Menschen, wagen nicht, in diesem Schweigen zu schauen und zu sprechen oder gar zu schweigen, weil wir eine ferne Angst darin zu ahnen meinen, deren Nachhall uns erschüttert. Dann flüchten wir aus diesem Schweigen in Geschwätz und wildes Tun, wo Angst und Genuss vor Kälte zitternd ganz nah zueinander rücken und sich nicht mehr unterscheiden wollen.
In die heimatliche Welt, das Gesicht der Ewigkeit, prägen sich beide ein: die Freiheit und der Schrecken. Darum ist das Gesicht so voll und tief. Und wenn wir uns nähern, diesem Gesicht des Nächsten, dann bedarf es einer Zurückhaltung der Nähe, bedarf es dieses horchenden Schweigens, aus dem wir schauen, sprechen und schweigen können, ohne die Freiheit zu verletzen, die nur Heimat, als Wunsch nach Nähe, möglich macht.
Dieses Schweigen ist die Art, wie Ewigkeit in der Welt erscheint. Die Ewigkeit kann in dieser Welt der Zeit nicht erscheinen, doch in diesem Schweigen, nein: als dieses Schweigen erscheint die Ewigkeit in der Welt. So schaut Gott die Welt. Darum ist im Auge diese letzte Wand da, dünn und durchschimmernd, und trennt die nahe Ewigkeit von der gegenwärtigen Freiheit. Und wir, die Menschen, schauen durch das gleiche Auge, schauen in die Welt zum Nächsten hin, und unser Gesicht ist klar und geheimnisvoll.


3


Unser Auge liest die Welt und den Nächsten wie ein Wort, wie einen Satz oder eine ganze Geschichte. Wir sind alle Leser. Weinlese: Wir sammeln die süssen Trauben für den reifen Wein. Doch manchmal stehen die Weinreben, die Worte so nahe beieinander, so dicht, dass sie in der Enge keine Luft mehr kriegen und keine Sonne, und auch die Sätze stossen sich der eine an dem andern, weil sie keinen freien Raum und keine freie Tiefe finden und kein Schweigen dies ihnen gönnen mag. Dann strecken und dehnen sie sich, schubsen sich dabei gegenseitig auch ein wenig, halten inne, schauen sich im Spiegel ihre Falten an und ihr Glänzen auf der Haut, ein Wort dreht sich zum anderen um, ob dieses wohl zu ihm gehöre, und die Sätze schieben ihren Punkt hinaus, gönnen sich ein Komma hier und dort, um noch ein bisschen zu verweilen und um Luft zu holen.
Solcher freier Raum und freie Tiefe ist Heimat für uns. Ein Gesicht kann Heimat sein, eine Landschaft, eine Stadt, eine Stimme, ein Buch, ein Bild, ein Lied. Als Schweigen, als Staunen, erscheint dann das Gesicht der Ewigkeit und blickt uns an. Wir schliessen die Augen, und wenn wir sie wieder öffnen, hat sich die Ewigkeit zurückgezogen, um uns auf unsere Heimat freien Blick zu geben. Dieses heimatliche Geschehen kann da sein jeden Augenblick; es ist das Daheim des Geheimnisses. Die Augen sammeln auf ihren Wegen in der Welt die Schätze dieses Geheimnisses ein und sammeln sie zu ihrer Heimat, und dann, wenn uns diese Heimat als Gesicht der Ewigkeit entgegentritt, steht es so klar da, als sei alles Geheimnis verurteilt worden, hinter der Klarheit versteckt zu sein.
Stets erscheint Heimat erst, wo sich ein Paar niederlässt. Klarheit und Geheimnis gehören zusammen wie Distanz und Nähe. Zwischen ihnen bleibt aber eine Grenze, eine letzte Wand, die, dünn und durchschimmernd, die beiden trennt, um ihnen Raum und Tiefe zu gönnen. Und stets ist ein Gespräch zwischen beiden da, Streit und Versöhnung, und ein Schweigen, angstvoll flüchtendes und horchendes.
Aber nun das Entscheidende: Dieses Gespräch findet nicht symbolisch, als irgendwie geistiges Schachspiel begrifflicher Figuren statt, sondern in der Welt, in unserem Leben, in unserer Existenz. Nehmen wir als Beispiel, um in der Folge leichter zum Gespräch zwischen Klarheit und Geheimnis zu kommen, das Wasser. Das Wasser ist nicht blosses Symbol für die Zeit, das Wasser ist die Art und Weise, wie Zeit in dieser Welt erscheint. Das Wasser ist der Körper der Zeit, ihre äusserste Verdichtung. Somit ist das Wasser auch die wunderbarste Poesie der Zeit, dessen nachhallendes Wort der Dichter nur im Schweigen erahnen könnte. Als Wasser steht die Zeit vollkommen klar da, als sei alles Geheimnis verurteilt worden, hinter der Klarheit versteckt zu bleiben.
Oder nehmen wir das Schweigen. Das Schweigen ist nicht Symbol für die Ewigkeit, es ist die Erscheinung, der Körper der Ewigkeit, ist ihre äusserste Verdichtung und ihre schönste Poesie. Im Schweigen steht die Ewigkeit vollkommen klar da, und im Wort, im Sprechen antworten wir diesem Schweigen, um es zu trösten und zu erfreuen und ihm das Geheimnis zurückzuschenken.
Es bleibt eine Grenze bestehen zwischen der Erscheinung und der Verborgenheit, eine Grenze zwischen Körper und Seele, zwischen Existenz und Insistenz. Diese Grenze gönnt beiden je ihre Geltung und Gültigkeit. Diese Grenze ist das eigentliche Wunder dieser Welt, der Bund des Lebens; sie macht die Quadratur des Kreises möglich: eine Klarheit des Geheimnisses.
Das Wasser kann klar sein, dann ist es durchsichtig. Es ist durchsichtig und bricht das Licht trotzdem nach seiner Art. Fische können im Wasser sein, und wenn dieses klar ist, sehen wir die Fische in ihren schönsten Farben. Klarheit macht durchsichtig zum Geheimnis, macht dieses Geheimnis aber auch einzigartig, macht es deutlich und deutbar, so dass es in unserem Denken und Empfinden Raum und Tiefe gewinnt. Da steht nun das Geheimnis hinter der Klarheit, wartend, dass es an die Reihe komme, im Gesicht zu sein. Und die Klarheit wahrt die Grenze, lässt im Fluss der Zeit das Geheimnis nur Tropfen für Tropfen in die Sichtbarkeit kommen, so dass die Tropfen, die Trauben und die Worte, nicht so eng beieinander stehen müssen, dass jeder seinen freien Raum und seine freie Tiefe erhält und reichlich Luft und Sonne zum Gedeihen hat. Klarheit schafft Distanz, so dass Nähe möglich wird.
Das Schweigen kann Heimat geben. Dann zeigt sie die Geduld der Insistenz des Wunsches, die Geduld des Geheimnisses, das sich Nähe wünscht. Die schweigende Geduld weiss, dass Heimat nicht erzwungen werden kann, dass Heimat Zeit braucht, Wasser, und das Wasser Klarheit. Als Geheimnis aber geschieht die Heimat, und die liebende Ungeduld des Geheimnisses, Heimat zu sein für die Welt, bringt nur umso stärker die Klarheit hervor: Durchsichtigkeit der Welt zum Geheimnis hin. Das schweigende Geheimnis schafft Nähe, die jede Distanz umgreifen kann.


4


Was für eine Angst ist es aber, deren Nachhall wir manchmal im Schweigen zu ahnen meinen und die uns derart erschüttert? Welche Angst ist es, die uns manchmal wie ein böser Geist anfällt und uns unstet und flüchtig macht, uns abwenden lässt von der Insistenz des Wunsches nach Nähe und Heimat?
Es heisst, Gott habe gezögert bei der Erschaffung der Welt. Er habe gezögert aus Angst, dass Seine Welt, Sein Mensch sich von Ihm abwenden könnte, Seinen Wunsch nach Nähe und gemeinsamer Heimat nicht teilen wollte. Aus diesem Zögern, so heisst es weiter, sei die Zeit entstanden und die Dauer. Diese Zeit, diese Dauer aber ist der Raum der Freiheit, ist die Gegenwärtigkeit unserer Existenz, von der Ewigkeit, von der Insistenz des Wunsches nach Nähe getrennt durch diese letzte Wand in unserem Auge. Das Auge ist der Ort, wo sich die Ewigkeit am weitesten nach vorn in die Gegenwärtigkeit gestellt hat, sich ausgestellt, sich ausgesetzt hat unserem Entscheid, unserem Urteil Seines Wunsches.
Die Frage ist also die nach unserer Sichtweise. Die Angst, die uns derart erschüttert, ist die Angst Gottes: Mag er mich? Betrachten wir Seine Angst als unsere Möglichkeit, Ihn zu entmachten, Ihn blosszustellen, dann wird diese Angst das Böse schlechthin. In unseren Augen fällt dann die Grenze, diese letzte Wand, weg, und die Insistenz der Angst überfällt, ohne Unterscheidung, unsere Existenz. Das Geheimnis der Angst überfällt die Klarheit unserer Existenz im gleichen Masse wie die Klarheit das Geheimnis überfällt und in sich verschlucken will.
Schauen wir aber mit Sanftmut, in horchendem Schweigen, in Raum und Tiefe schenkender Freiheit auf diese Angst Gottes, treten wir Seiner Zartheit, ja, Seiner inneren Zerbrechlichkeit, dass Er Angst habe um uns, gegenüber als ein Geheimnis, als das Geheimnis, dann könnte dieses Geheimnis klar werden in uns. Unsere Existenz stünde dann so klar da, als sei alles Geheimnis verurteilt worden, hinter der Klarheit versteckt zu bleiben. Unsere Existenz könnte wagende Antwort sein auf das Wagnis Gottes, diese Welt der Freiheit zu erschaffen.
Existenz ist Wagnis, Wagnis zur Heimat, Wagnis zu Nähe und Distanz, Klarheit und Geheimnis, Gegenwärtigkeit und Ewigkeit. Heimat ist, wo sich dieses Wagnis niederlässt und zu einem Bund des Lebens zusammenwächst. Und das Gesicht unserer Heimat, das Gesicht der Welt, könnte sich entspannen, könnte im Schweigen zur Ruhe kommen in unserem scheuen Augenblick zu Gott und Seiner Angst.

 

 
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