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Daniel Ambühl   Bildweg   Wege zur Heimat   Verwandlungen in Zürich   Dokumente

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x Verwandlungen in Zürich

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Begleitheft zum vierten der Zürcher "Wege zur Heimat" 1998


 

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Inhalt

1.  Geburt  >
2.  Kindheit 
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3.  Jugend 
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4.  Mündigkeit 
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5.  Ernüchterung 
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6.  Weisheit 
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7.  Heimkehr 
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Das achte Bild  >
Essay: Wiege der Heimat  >

 

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Geburt

Im Herzen von Zürich befand sich vor nicht allzulanger Zeit ein Quartier, in welchem hunderte von Menschen wohnten, in verwinkelten und dicht aneinandergedrängten Häusern. Das alte Stadthaus stand mittendrin mit einem auffälligen Treppengiebeldach. An seiner westlichen Mauer angebaut war die Bauhütte der Stadt. Vor dem Eingang des Stadthauses öffnete sich ein Platz mit einem Brunnen. Märkte wurden dort abgehalten, vor allem mit Korbwaren, Fässern und Gefässen aller Art. Hinter dem Stadthaus, zwischen der Bauhütte und der seeseitigen Stadtmauer befand sich der langezogene, spitzwinklige Bauplatz. Steinmetze behauten im Freien Sandsteinquader für die Fundamente und Mauern von Häusern, Zimmerleute richteten Balken zu für die Böden und Dächer. Das Quartier hatte eine sonderbare Eigenheit. Es besass nur einen einzigen schmalen Ein- und Ausgang in der nordöstlichen Ecke zur Limmat hin; ansonsten war das Quartier vollkommen abgeschlossen; im Norden durch das Fraumünsterkloster und eine an seine Umfriedung angelehnte Häuserzeile, im Westen durch die Stadtmauer und den dahinterliegenden Fröschengraben; im Süden durch den See und im Osten durch die Limmat. Man konnte sich in diesem Quartier gefangen oder geborgen fühlen wie in einer Fischreuse oder einem bauchigen Gefäss. Das Stadtviertel hiess Kratzquartier und man berichtet, dass es den Namen von den geflochtenen Korbwaren bekam, den Kratten und Chrätzen, die - wie das Quartier selber - eine Art Sackgasse sind für die Dinge, die hineingelegt werden.
Das Kratzquartier wurde restlos zerstört, es versank fast wie das sagenhafte Atlantis. Kein Stein ist von ihm am alten Platz; einzig der Brunnen blieb erhalten. Er steht heute versteckt, unscheinbar und weit weg von seiner ursprünglichen Quelle zwischen Fritschi- und Zypressenstrasse; ein Bauchnabel der Heimat, der Geschichten versunkener Zeiten erzählt. Das war einmal unsere Heimat?
Heute steht im Bereich, wo sich einst der alte Bauplatz befand, das mächtige Gebäude der Nationalbank. Stolz und herrisch ragt es auf. Historisch, das heisst: von der Zeitlichkeit aus betrachtet, sind die Bewohner des alten Kratzquartiers, aber auch die Bauherren der Nationalbank und des neuen Stadthausquartiers längst gestorben. Die Stimmbürger, die am 30 April 1899 ablehnten, auf dem Kratzplatz das Zürcher Kunsthaus zu errichten, aber auch die Stimmbürger die am 6. Juni 1915 befürworteten, dass dort die Nationalbank errichtet würde: Sie sind alle tot. Untergegangen wie das Kratzquartier. Wir stehen jetzt an ihrer Stelle. Und morgen, wenn wir unser Quartier in dieser Welt abgebrochen haben, stehen unsere Kinder an unserer Stelle. Die Geschichte geht weiter, Wort um Wort, Satz um Satz. Nie aber ersetzt das Neue das Alte. Das Alte behält seinen Ort, auch wenn nun Neues seinen Raum einnimmt; vergangene Werte behalten ihren Wert auch wenn nun neue Werte gelten, jedes vergangene Heute bleibt Heute, auch wenn es heute schon wie gestern scheint, so wie vergangenen Worte und vergangenen Sätze ihre Orte weiter einnehmen, während wir weiterlesen. Nicht nur behalten diese Worte ihre Gültigkeit: Wir vergegenwärtigen sie in der Bewegung des Lesens, und vergegenwärtigen Heimat in der Bewegung unseres Lebens.
Viele Zeitgenossen priesen den Abriss des Kratzquartiers als Befreiung aus einer beklemmenden Situation. Den wachsenden Menschen drängt es aus dem Korb der Gebärmutter, hinaus in Zeit und Raum dieser Welt. Schrecklich sieht dieser Geburtsvorgang aus, grausam scheinen die Wehen, die das Neue austreiben. Wie eine Baustelle, mit Klammern und Kranen und Baggern, Schmutz und Schlamm und tiefen Gräben, aus denen die Röhren und Kanäle hervorschauen, wie Adern und Gedärme aus der Wunde eines sezierten Körpers. Die Angst ruft: "Wo war der Heimatschutz, als das Kratzquartier verschwand?" Oder: "Wo war der Heimatschutz, als ich jung, hübsch, geborgen und glücklich war?" Aber lassen wir uns nicht täuschen: Das Leben im embryonalen Kratzquartier-Atlantis war nicht das Paradies. Auch das "Haus zur Hölle" stand einst dort, in welchem der Henker wohnte. Die Hülle kann zur Hölle werden, wenn der Mensch ihr verhaftet bleibt, und nicht in die eigene individuelle Initiative ausschlüpft. Das Wachsen des Menschen gleicht einer Abfolge von Phasen, deren jede ihre unantastbare Gültigkeit für sich und für das Ganze bewahrt.

 

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Kindheit

Die Mauern des Kratzquartier sind niedergerissen. Frei und offen scheint der Platz des entbundenen Lebens. Überall kann sich der ungebundene Mensch hinwenden, alle Schiffe besteigen, die am Bürkliplatz landen, mit jeder der vielen Brücken den Fluss überqueren, jede Strasse nehmen, deren grösste zum Hauptbahnhof führt. Von ihm gehen Züge überall hin, alle Möglichkeiten sind da. Auch in den Auslagen der Geschäfte entlang der Bahnhofstrasse glänzen, locken und schillern die Möglichkeiten in allen Farben. Vieles gibt es zu entdecken. Es scheint, dass der ungebundene Mensch seine Freiheit erkennt in all diesen Möglichkeiten; eine unbestimmte Freiheit, weil Wunsch und Wille noch nicht unterschieden sind. Der Mensch spiegelt sich im Glas des Schaufensters und sieht hinter seinem transparenten Spiegelbild all die wundervollen Waren. Die Menschen tanzen und schwärmen vor den Schaufenstern und in den Geschäften vor den Gestellen wie Kinderfische vor einem bunten Korallenriff. Und man weiss nie, wenn man ihnen dabei zuschaut, ob sie in ihre eigene Vorstellung so verliebt sind, in ihr Hüpfen und Tanzen, oder ob die glänzenden Dinge nach den Menschenkindern fischen, sie sich von den Dingen umwerben und gerne fangen lassen, an ihrem unsichtbaren Silch zappeln, begeistert und taumelnd vor Glück. Ideal und Ding, Vorstellung und Wirklichkeit, Wunsch und Erfüllung scheinen im kindlichem Spiel vereint.
Die Bahnhofstrasse nennt man das teuerste Plaster der Stadt. Wie dies? Ihr Bau hatte doch nur 776‘000 Franken gekostet. Und sie wurde nicht einmal eigentlich auf Land errichtet. Es befand sich da zuvor ein Umflutgraben zum Schutz der alten Stadt. Teuer ist das Pflaster, weil man hier erfährt, dass man sich nicht alles leisten kann. Man müsste sich entscheiden für das eine, das man ist, aber man hüpft gerne noch hin und her zwischen all den Möglichkeiten. Müsste man nicht alles sehen, bevor man sich entscheiden kann? Alles aber kann man nicht sehen, denn der Unendlichkeit der Möglichkeiten steht keine Unendlichkeit des Lebens gegenüber. In der Kindheit aber scheint das Leben unendlich. Deshalb hüpft das Kind. Es ist sein Vorrecht. Und deshalb war die Bahnhofstrasse früher ein Fröschengraben. Nein, sie es es noch heute. Ein Graben ist die Bahnhofstrasse noch immer. Sie kann zur Falle werden, wenn der schon erwachsene Mensch befangen bleibt von der Begeisterung für die Vorstellung, sich alles leisten zu können.
Vom Bahnhof gehen Züge in alle Richtungen, aber nur einen Zug können wir besteigen. Welchen? Was haben wir von den vielen Möglichkeiten, wenn wir nur eine leben können? Sind wir nicht jetzt erst recht in der Sackgasse des Kratzquartiers? Wir kratzen uns am grünen Hinterkopf und denken, am Meetingpoint wartend, darüber nach, was wir tun sollen. Das Hüpfen der naiven Unentschiedenheit und die Erwartung, dass hier alle Wünsche in Erfüllung gehen, gehören zusammen.

 

Jugend

Was hat Heinrich Pestalozzi ausgerechnet an der Bahnhofstrasse verloren? Ist es nicht zynisch, dass der grosse Erzieher und Anwalt der Verdingkinder mitten im Einkaufsrummel vor einem Warenhaus steht? Man möchte meinen, man habe Pestalozzi zu Lebzeiten in seiner Heimatstadt schon genug verlacht, verspottet, mit Missachtung und Gleichgültigkeit gestraft. Nun ist er gar in Bronze gegossen dazu verdingt, den Eingang des globalen Warenhauses zu schmücken. Dies war nicht bösartige Absicht, denn als die Statue 1899 aufgestellt wurde stand an der Stelle des Warenhauses noch das Linth-Escher-Schulhaus. Der Zeitgeist schafft sich seine trefflichsten Bilder selber. Meist sehen sie aus wie Unfälle.
Wie könnten wir diesen Bruch zwischen Schule und Warenhaus sehen? Unausweichlich scheint, dass die Schüler in der Schule betriebswirtschaftlich behandelt werden müssen; Die Schule ist ein Bildungsapparat, der versucht Rahmenbedingungen zu schaffen, auf dass effizient und nachhaltig Ausbildung geleistet werde gemäss den Bedürfnissen, Zwecken und Absichten der Abnehmer: Den Mitmenschen, der Familie, der Regierung, der Armee, der Kirche, der Industrie usf. Das Mass, das dem jungen Menschen gesetzt wird empfängt er von den Zwecken auf die man sein Dasein behaftet. Dass in der unabsehbaren Perfektionierung solcher betrieblicher Vorgäng die eigene Initiative des Schülers unterzugehen droht, ist offensichtlich; um dieser Drohung zu entkommen werden andere betriebwirtschaftliche Konzepte in Gang gesetzt. Dies betrifft nicht nur die Schule. Im Schnellimbissrestaurant und im Warenhaus, im Spital wie im Sozialamt wird der Mensch auch betriebswirtschaftlich behandelt, nicht anders als ein Auto am Fliessband oder ein Stück Holz in der Sägerei: Zweckmässig, kostengünstig, umweltfreundlich. Der Kunde ist Froschkönig von Gnaden des Betriebs, dem er sich unterwirft, indem er ihn in Gange hält. Das ist logisch. Ob es aber vernünftig ist? Wir müssten nun nach den Zwecken fragen und nach den Berechtigungen, aufgrund derer sie gesetzt und wie sie vom Menschen umgesetzt werden und kämen so vom Hundersten ins Tausendste. Versuchen wir einen anderen Weg. Die Schule ist in der Idealvorstellung ein Raum, in welchem dem jungen Menschen vermittelt wird, dass alle Ideale bedingt sind von der Wirklichkeit dieser Welt. Die Schule selbst ist als Ideal bedingt von der Wirklichkeit der Welt. In der Schule werden Ideale bedingt. Das Ding und die Wirklichkeit werden erfahrbar, und scheinen erkennbar und begreiflich zu werden.
Umgekehrt werden im Warenhaus die Dinge idealisiert. Alle Waren und Dinge sind auf dem Markt ins Licht des Ideal gerückt. Die Vorstellung wir erfahrbar, scheint greifbar und sinnlich real, das Ideal scheint konsumierbar zu werden. Schule und Warenhaus sind dialektische Partner ein- und des selben Vorgangs: der Unterscheidung von Ideal und Wirklichkeit. Damit erkennen wir eine Verwandlung, die eine tiefgreifende Umorientierung bedeutet und die Sichtweise der Welt radikal ändert. Im Verlauf des Lebens von der Jugend zur Mündigkeit ist eine Richtung eingeschlagen, in welcher die Wirklichkeit als getrennt vom Ideal erfahren und angenommen wird. Der Mensch wird sich eindeutig und bestimmt in seinem Wunsch, Ideal und Wirklichkeit zu verbinden.

 

 

Mündigkeit

Wenn man die alten Karten Zürichs studiert, hat man den Eindruck die Mehrheit der Zürcher hätten einst in einem Kloster gelebt. Fraumünsterkloster, Barfüsserkloster, Augustinerkloster, Predigerkloster und Oetenbachkloster bildeten weitläufige Anlagen in der sonst eher gedrängten Stadt. Sie sind bis auf wenige Überreste verschwunden. Das Stadthaus befindet sich im früheren Geviert des Fraumünsterklosters, Zentralbibliothek und Stadtarchiv auf dem Boden des Predigerordens. Die Amtshäuser I bis IV der Stadt Zürich stehen auf dem Gelände des einstigen Klosters Oetenbach. Wo sich die Zellen der Mönche befanden sind heute die Büros der Beamten zu finden, Archive, Schalterräume, Sitzungszimmer, Gefängnis und Kaserne der Polizei. Der Klosterbruder ist heute Beamter; Äbtissinnen und Chorherren sind Stadträtinnen und Chefbeamte.
Die Lebenphase des Klosters oder des Beamtenstandes, ist diejenige der Gründung einer Familie und der Verpflichtung gegenüber dem eingegangenen Bund: der Treue. Aus dem Wunsch wird der Wille empfangen, das Ideal in der Wirklichkeit zu vollziehen. Der Wunsch nach einem verbindlichen Leben führt mit Elan und Enthusiasmus in den Vollzug und in die Erfüllung einer verbindlichen Lebensform. Im Kloster wird sie angenommen als Ordensregel, im Staat als Verfassung, in der Familie als Ehe. Das Kloster ist seit jeher Sinnbild für die Gründung einer Ehe zwischen Zeitlichem und Ewigem, Wirklichkeit und Ideal. Aus der Einsicht in die Bedingtheiten des Dasein in der Welt entstehen Verfassungen von Gemeinschaften, die im Schutz und Rahmen befestigter Grenzen des Gesetzes das Wachsen und die Entfaltung des einzelnen Menschen gewährleisten. Mit der Wirklichkeit der Zeit ändern sich jeweils die Bedingtheiten des menschliche Daseins, nicht so schnell wie wir manchmal meinen, aber beständig, und so sind zuweilen grosse Umbrüche möglich, wie diejenige in der Reformationszeit. Dieser Umbruch bedeutete aber keineswegs einen Wechsel der Grundwerte von Gesetz, Ordnung, Autorität, Respekt, Anspruch auf Dauer und Gültigkeit - Im Staatsapparat, wie im Kloster sind die Regeln streng, Autoritäten und Hierarchien klar strukturiert. Die Reformation stellte aber die Frage nach der Unterscheidung von Profanem und Sakralem und nach dem Verhältnis zwischen Objektivem und Subjektivem zu erneuter Prüfung.
Die Verwandlung, die im Übergang von der sakralen Gemeinschaft zur profanen Gemeinschaft stattfindet ist diejenige einer grossen Ernüchterung. Die Gewissheit des Gesetzes als Ausdruck objektiver göttlicher Wahrheit schwindet und führt zum Versuch, objektive Gesetze mithilfe der Wissenschaft aus der Wirklichkeit der Welt zu extrahieren. Diese Haltung aber stellt ihrerseits immer deutlicher den Staat in Frage, dessen Gesetze in der Folge vor dem Volke - als dem Gradmesser der Bedingtheiten des Daseins - stets neu geprüft werden müssen. In dieser Phase zeigt sich erst, was Charakter des Menschen bedeutet: Die Unbedingtheit des Gesetzes in den Bedingtheiten der Wirklichkeit zu ertragen.

 

 

Ernüchterung

Im Blick auf Verwandlungen der Heimat bietet der Lindenhof als höchste natürliche Erhebung und Keimzelle der Innenstadt reichlich Stoff. Keltische Fluchtburg, Römerkastell, Pfalz, autonomes Jugendhaus, Tiefgarage für 610 Autos, oder im "Kriegsbetrieb" Zivilschutzbunker für zehntausend Menschen. Wir könnten sogleich eine Reihe weiterer Worte anfügen, welche die Grundthemen dieser Erscheinungsformen des Lindenhofes benennen: Erbe, Tradition, Erhaltung, Schutz, Vorsorge; ihrem Wesen nach alles Begriffe, die auf die Überlieferung des Bestehenden an die Nachkommenschaft deuten. Bei der Überlieferung an einen aktiven Sendevorgang zu denken, analog einer Radio- oder Fernsehübertragung von einem Sender zu einem Empfänger, ist ein technokratisches Bild von Tradition. So verquer wie etwas das technizide Gerede vom Schlüsselcode der Gene als der Erbinformation des Menschen. Tradition wird nicht übermittelt wie man eine Datei von einem Computer zum nächsten überträgt. Tradition ist Einweihung in die Erfahrung gelebten Daseins. Aber nicht einmal das: Zuerst ist Tradition einfach nur gelebtes Dasein. Dies ist manchmal ernüchternd, denn es kann sein, dass niemand da ist, mit welchem man die Weihe und das Fest der Tradition teilen und feiern kann. Und so bleibt einem nichts übrig, als sie bei sich zu behalten und sich an sie zu halten; ohne weiteres. Zum ersten Mal empfindet der Mensch dann die grausame Tiefe der Einsamkeit: Nicht nur mit dem Leid, sondern auch mit der Freude allein zu sein. Glücklich zu machen hiesse doch, das Glücklich-Sein zu teilen. Plötzlich wird klar, dass dieses Teilen des Glückes, das zuvor noch in Kloster, in Staat und Ehe als Gesetz unumwunden galt - als unbewusste Technik der Liebe da waltete - durchbrochen ist, nicht mehr technisch sein kann, sondern von allem Technischen befreit, ganz wie Liebe ist: Umsonst.
Dieses "Umsonst" kann den Menschen erschrecken, wenn die Liebe den Geschmack der Vergeblichkeit hat, des "Für nichts und wieder nichts". Der Mensch zieht sich dann zurück in seinen Bunker, will von Nichts mehr wissen, vernichtet seine Bewegung, stellt sein Selbst, sein Auto, in die Tiefgarage, will in dieser Höhle autonom sein, betäubt und verschlossen. Er brütet dort im Dunkel und denkt: Alles ist sinnlos, weil das Neue immer das Bisherige vernichtet. Oder: Alles ist sinnlos, weil das Bisherige immer alles Neue vernichten will.
Das Umsonst der Liebe kennt aber auch den Duft des "Für das Geheimnis der Ewigkeit". Es ist die Stimmung, in welcher auf dem Berg, dem verborgenen Kern des Lebens, ein fürstlicher Sitz errichtet wird und der Mensch den Überblick geniesst. Nicht Überblick über ein paar Hausdächer und Bäume, nicht Überblick über äusserliche Besitztümer, kein verächtliches oder mitleidiges Herabschauen auf die Niederungen und Vergeblichkeiten früherer Lebensabschnitte, sondern Überblick über die vielen Gestalten des erlebten Menschseins. Das Wort des Lebens wird immer deutlicher.

 

 

Weisheit

Das Helmhaus hat seinen Namen von der ungewöhnlichen Form des Gebäudes, welches hier bis zum Jahre 1791 stand. Das Dach des alten Helmhauses reichte damals - wie ein langes Keid - von der Firsthöhe der Wasserkirche bis fast zum Boden. Das Wort "Helm" ist etymologisch von "heln" hergeleitet, einhüllen. Und tatsächlich hüllte das Helmhaus nicht nur den Eingang zur Wasserkirche, sondern auch den grössten Teil ihrer zum Grossmünster liegenden Ostfassade ein. Zunächst diente das Helmhaus als schützender Vorraum zur Wasserkirche, später als Kaufhaus, zu Beginn des 19. Jahrhundert wurden in der heutigen Vorhalle jeweils am Freitag Baumwolle, Leinen, Flachs und Hanf verkauft - damit sich auch die Bewohner einkleiden und einhüllen konnten. Die Helmhaus-Konditorei war in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts eine Attraktion nicht zulezt auch wegen seines Juniorchefs, Emil Hegetschweiler, der als Schauspieler den kleinbürgerlichen Zürcher Lebensstil und Dialektkolorit inszenierte. Heute beherbergt das Helmhaus der Stadt Zürich wechselnde Ausstellungen des zeitgenössischen Kunstschaffens.
Die Einhüllung hat zwei scheinbar gegensätzliche Merkmale, nämlich diejenigen der Verbergung und des Schutzes auf der einen, der Vorstellung und Zur-Schau- Stellung auf der anderen Seite. Diese Widersprüchlichkeit ist allen Versuchen, etwas darstellen oder verbergen zu wollen, zu eigen. Der Helm beispielsweise ist ein Schutz für das Haupt, verrät aber gleichzeitig den Ort, wo sein Träger meint verletzlich zu sein. So ist es mit den Kleidern, die den Körper bedecken ihn andererseits aber auch zur Schau stellen, so ist es mit der Architektur und den Verzierungen der Häuser, der Schauspielerei, jeder Vor - und Aufführungspraxis, den Veranstaltungen, dem Zuckergebäck aber auch weithin mit der Kunst. Das Dilemma des Willens, dass er nur darstellt und hervorbringt, was ihm fehlt und er immer verrät, was er zu schützen vorgibt, tritt darin zu Tage. Das Innere kann nicht dargestellt werden, weil die Innerlichkeit verschwindet, wenn sie veräussert wird. Als Darstellung müssen wir selbst den Fall betrachten, dass der Mensch vorgibt, etwas Inneres schützen zu wollen. Das Innere ist doch schon a priori vor dem Äusseren geschützt, indem es verborgen ist. Es wird verleugnet in der Anmassung, es schützen zu wollen aber ebenso verleugnet im Bildersturm, dem Willen, das veräusserlichte Geheimnis wieder in die Innerlichkeit zu führen. Diese Gefahr ist ausgedrückt in der Mahnung: "Du sollst Dir keine Bilder machen". Der Ernst und die Verzweiflung dieser Erkenntnis ist tief: "Was kann man denn tun? Darf man überhaupt noch etwas tun? was hab ich getan!"
Erst im Alter, im Zustand der Reife, kann der Mensch die Konsequenz dieser Erkenntnis, die er längst zu denken vermag, frei annehmen. Der Blick auf das Ganze öffnet sich im Masse, wie die Nähe des Endes an den noch wachen Menschen herantritt. In ungeahnter Grösse wird in der Vorschau auf das Wortende die Absolutheit des Geheimnisses in der unbedingten Bedingtheit seiner Buchstaben erlebt. Nun wird mit der sinngebenden Zusammenfassung aller Phasen des Menschseins gerechnet, und alles aus diesem zusammenfassenden Ganzen heraus gedacht, geschaut und getan. Es sind keine grossen Dinge mehr, die so getan werden. Der Weise ist kein titanischer Schaffer. Er setzt sich auf eine Bank, aber er weiss nun, auf welcher Bank er sich hinsetzen möchte; nicht auf eine Bank aus kaltem Marmor, denn auf der leblosen Utopie einer einförmigen, homogenen, erstarrten Theorie ist keine Ruhe zu finden. Der Weise ruht auf der Wärme des Holzes, welches in seinen Jahrringen die Geschichten des Wachsens erzählt. Wunsch und Wille sind unterschieden. Der Wunsch erkannt als Ausdruck des Versuches, das Ideal zum Durchbruch in die Realität zu bitten. Und der Wille erkannt als Ausdruck des Versuches, das Reale zum Durchbruch ins Ideal zu bewegen. Wunsch und Wille sind dialektische Partner der Unterscheidung von Insistenz und Existenz. Zwischen diesen beiden Sichtweisen der Freiheit wiegt das Leben hin - und her und wiegt den versöhnlichen Menschen in eine Gelassenheit und Offenständigkeit, die den Weisen auszeichnet. Erleuchtet ist der Weise, und die Welt durch sein Licht in besonderer Weise beschienen. Nicht im kalten künstlichen Neonlicht einer von ferne angezapften Energie des Widerwillens, sondern in der wärmenden Nähe und Lebendigkeit der Gnade.
Die grossen Werke der Kunst sind von diesem Lichte beschienen. Sie rücken den Gegenstand in die Klarheit seines freien Ganzen, in welchem das Bitten und Bewegen, das Gebettel und Geschüttel der Zeit Halt macht. Der Weise mag die Ruhe und Besinnlichkeit der Bilder, er ist kein Bilderstürmer. In der Welt der Eindeutigkeiten, der Parteinahme und der Äusserlichkeiten gilt der Weise deshalb nicht, und ist leicht wegzudrängen. Entrückt ist er, und von aussen betrachtet gar verrückt. Der Weise ist nicht ganz von hier. Er scheint aus einem Traumland herzukommen, denn sein Leuchten ist unfassbar, geheimnisvoll und umsonst. Es ist ein Leuchten, das von selbst leuchtet, ohne Zufuhr äusserer Energie.

 

Heimkehr

Die Wasserkirche ist das eigentliche Herz der Stadt Zürich. Errichtet wurde sie auf einer Insel in der Limmat. Nach der Gründungslegende ist der Felsen, den die Kirche heute ganz bedeckt, der Hinrichtungsort der Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula. In den Sagen heisst es, eine Quelle entspringe auf der Insel, eine Quelle heiligen Wassers, die zwar manchmal versiegte, aber doch immer wieder von Neuem entsprang. Die Wasserkirche war bis ins 18. Jahrhundert nur über die Münsterbrücke erreichbar, ein hölzerner Steg, der im 13. Jahrhundert errichtet wurde und ausschliesslich dazu diente, dass die Bewohner der Stadt zu Fuss die Limmat überqueren konnten. Die Benutzung der Münsterbrücke zu Pferde war strengstens untersagt. Mehrmals wurde die Wasserkirche neu gebaut, in der Reformation ihr schlichter Schmuck entfernt, später Galerien eingebaut, um sie zwischen 1613 und 1917 als Bürgerbibliothek der Stadt zu nutzen. Eine Kunst- und Raritätensammlung waren darin untergebracht, eine Münzsammlung und die Pantoffeln der ersten Fraumünsteräbtissin Hildegard zu bewundern. Ausserdem wird in Reiseberichten der Zeit erwähnt, dass dort auch Mumien, Skelette und die "Haut einer Frau" ausgestellt waren. Seit 1942 ist die Wasserkirche wieder einfach Kirche.
Wie eine Insel im Fluss der Zeitlichkeit ist die Heimat. Ein Verbrechen fand auf dieser Insel statt: Mit der Geburt in die Zeit wurde das Heile, Ganze und Eine zerbrochen in die Zweiheit dieser Welt, in die Dualitäten von Tag und Nacht, Mann und Frau, Himmel und Erde, Ewigkeit und Zeit, Ort und Raum. Doch aus dem Felsen im Fluss der Zeit, aus dem geheimnisvollen Fundament des Lebens entspringt noch ein anderes Wasser, heiliges Wasser, das gegen alle Gebrechen des Leidens in der Zeitlichkeit hilft. Es muss das Wasser einer anderen Zeit sein, einer Zeit, die nicht nur Vergänglichkeit und Verwesung bringt, sondern auch Dauer und Erfüllung schenkt in der Treue des liebenden Herzens. In schweren Zeiten scheint diese Quelle zu versiegen, wie eine Fackel, die erlöscht, doch dann wird ihre Glut wieder entfacht und neue, lichte Zeit entspringt. Eine Kirche wurde auf dieser Insel errichtet, ein Haus auf festen Grund; mitten im Fliessen der Zeit. Jeder Mensch kann dahin kommen. Aber jeder muss dazu sein Ufer verlassen und vom hohen Pferd, auf dem er einseitig sitzt, herabsteigen. Im Schutz des Helmhauses könnte der Mensch aus seiner Haut der Äusserlichkeit schlüpfen, bevor er eintritt. Wer aber wagt dies? Deshalb ist die Wasserkirche meist leer. Sie wird nicht so fleissig besucht wie das männliche Grossmünster zur rechten und das weibliche Fraumünster zur linken Seite. Weltliche Macht, äusserlicher Ruhm, körperliche Sicherheit herrschen in der Knechtschaft unter dem Zwang einseitiger Zugehörigkeiten zu beiden Seiten der Limmat.
Dazwischen liegt die Wasserkirche - im wahrsten Sinne des Wortes ein Kirchenschiff - wie eine Fähre, die von einem Ufer zum anderen Ufer hinüberführt, von einer Phase zur nächsten, vom Teil zum Ganzen, von der Frau zum Mann, vom Mann zur Frau, von der Zeit zur Ewigkeit und von von der Ewigkeit zurück, oder besser: beiden als Wohnung dient, wenn sie zueinander finden.

 

 

 

Das achte Bild

Ein Walfisch schwimmt auf Zürich zu. Er sieht aus wie eine kleine Insel, auf welcher ein Haus errichtet wurde, ein Paar sich umarmt und eine Wiege steht. Das Auge des Wals ist eine Sonne und eine Wasserfontäne entspringt aus ihm. In vielen Märchen wird das Traumbild beschrieben des Lebens auf dem Rücken eines grossen Fisches, dem Leviathan, lebendiger Ort des Lebens. Der Walfisch ist aber in biblischen Bildern immer auch Zeichen der glücklichen Heimkehr. Jonah wird von einem Wal verschluckt, als sein Schiff in einen Sturm gerät und er über Bord geworfen wird. Der Walfisch bringt ihn zurück und spuckt ihn an Land. In vielen Bildern von Daniel Ambühl taucht immer wieder der "Weltfisch " auf. Er ist ein Bild für den Menschen, der im Fliessen der Zeit, im Wasser, unterwegs ist, und der Welt, die er in seinem Wunsch in sich trägt, da draussen in der Wirklichkeit begegnen möchte. Manchmal ist dieser Mensch stumm und sprachlos wie ein Fisch, manchmal aber auch mit anderen zusammen zappelnd in einem Schiff, dem Gleichnis der Gemeinschaft der Menschen. So ist auch in diesem Schlussbild der Fisch und das Schiff im Bild des Wals vereint.

 

 
Wiege der Heimat

Essay von Thomas Primas

Lasst die Liebe von der Liebe träumen

"Hohelied"



1
Vater und Mutter sitzen da in ihrem Heim, schauen zueinander hin und schweigen. Es ist kein frohes, heiteres Schweigen, das Heimat geworden ist für die bereits gesprochenen und noch zu sprechenden Worte, sondern ein trauriges Schweigen. Wenn Vater und Mutter in ihrem Heim sitzen und kein Kind da ist, das ihre Herzen weit und warm macht mit seinem Lachen und Weinen, dann sind sie traurig. Es fehlt ihnen die Stimme des Kindes in den Gängen und Zimmern ihres Hauses und das lautlose Wippen der Wiege in der hergerichteten Ecke unter dem Bild an der Wand.
Jede Heimat hat eine Wiege, an der Vater und Mutter sitzen, und auch dann, wenn kein Kind in der Wiege liegt, richten Vater und Mutter eine Ecke her, hängen ein Bild auf und stellen darunter eine Wiege; es ist ihre grosse Sehnsucht und Vorfreude, die sie dazu bringt, dies zu tun. Und manchmal geht der Vater, wenn es die Mutter nicht sieht, oder die Mutter, wenn es der Vater nicht sieht, leise zur Wiege hin, stossen sie ein wenig mit der Handoberfläche und schauen ihrer lautlosen Bewegung zu. Und machmal schaut der andere dann unbemerkt durch die Türe und versteht.
Eine Heimat ohne Wiege gibt es nicht. Die Ehe von Zeit und Ewigkeit ist Heimat, und auch sie hat in ihrer Mitte diese Wiege. Alle Heimat kommt von dieser Heimat her und jede Wiege von dieser Wiege. Der Vater, die Verborgenheit der Insistenz des ewig wünschenden Seins, sitzt da, und die Mutter, die verletzliche Offenheit des gastfreundlichen Empfangs im Haus der Existenz. Sie sitzen bei der Wiege, schauen ihr Kind an und freuen sich. Und wenn noch kein Kind da ist, sitzen sie vielleicht schweigend in ihrem Heim und schauen einander traurig an, und doch - vielleicht scheint es nur uns, den Menschen, so, dass sie traurig sind, vielleicht ist es unsere eigene Traurigkeit, die wir in ihren Augen sehen, weil wir nicht wissen, dass der Vater und die Mutter bereits eine Ecke hergerichtet haben, mit einem Bild an der Wand und einer Wiege darunter, und dass sie, wenn es der andere nicht sieht, manchmal hingehen und mit der Hand leicht an die Wiege stossen und ihrem Schaukeln zusehen. In ihrer Sehnsucht und Vorfreude ist das Kind, die Liebe, schon da, und wir können an dieser Freude vielleicht nur deshalb nicht teilhaben, weil wir nie, unbemerkt, durch die Türe zuschauen und verstehen.
Die Wiege der Heimat ist der Ort, wo die Liebe empfangen wird, unsere offenen Hände und Arme, in die wir sie nehmen, unsere offenen Herzen, in die wir sie gastfreundlich einladen. Es ist ein heimlicher Ort, denn Scheu ist da vor dem Geheimnis dieses Kindes, und deshalb ist es auch ein heimeliger Ort, intim und nah, mit kleinen Vorhängen, die gezogen werden, wenn das Kind schlafen möchte. Das Kind, die Liebe, schliesst die Augen und träumt von sich selbst.

2
Die Wiege ist der Ort, an dem Vater und Mutter zusammenkommen, der Ort der Liebe. Insistenz und Existenz, Verborgenes und Offenes kommen an diesem Ort zusammen für das Kind, um des Kindes willen. Wehe dem, der diesen Willen bricht und das Kind aufweckt, wenn es von sich selbst noch träumt, um ihm seinen eigenen Willen aufzuzwingen. Wir sollten das Kind nicht wägen wollen nach den Massstäben unseres eigenen Willens. Die Liebe lässt sich nicht wägen, lässt sich nicht messen. Es ist das Leben, dieses Kind, das Leben der Liebe, und Vater und Mutter sitzen an seiner Wiege und wiegen es in seinem Traum. Die Liebe wiegt die ganze Welt.

Die Wiege wiegt in uns: in unserem Herzen und in unserem Mund, in unserem Tun, Empfinden, Sprechen und Denken. Dort wiegt die Wiege hin und her, und die Bewegung hört nicht auf. Was für eine Bewegung ist es aber, dieses Wiegen? Was bewegt es in ihrem innersten Kern? Was bewegt uns, was dann dieses Wiegen in Bewegung bringt?
Was uns bewegt, ist unser Wunsch, im Garten Eden zu leben, dem Ort des "behüteten Glücks". Wir möchten gerne glücklich sein und glücklich machen. Dieser Wunsch lässt Vater und Mutter zur Wiege gehen. Dieser Wunsch lässt Gott die freie Existenz erschaffen und lässt auch die freie Existenz dem Vater antworten. Dieser Wunsch, glücklich zu sein und glücklich zu machen, ist der Ur-Wunsch, ist der Ursprung, die Wiege der Heimat.
Dieser erste Wunsch stellt uns in den Garten Eden, an den Ort des "behüteten Glücks". Der selbe erste Wunsch aber verbirgt diesen Ort sogleich wieder. Für unsere Bewusstheit, nach dem Essen vom Baum der Erkenntnis, ist der Garten Eden verborgen. Unsere Bewusstheit wird aus dem Ort des behüteten Glücks vertrieben, da der Wunsch verborgen sein möchte vor dem Wissen, er möchte dort im Garten Eden sein als Baum des Lebens und sich dem Menschen schenken. Hier, in der Existenz, ist der Ort dieses Geschenkes, da nur hier der Garten Eden, da nur hier das ewig behütete Glück verborgen ist. Das Glück ist nicht für das Wissen, das Glück ist für das Vertrauen.
Wie jedes Geschenk aus dem Wesen des Geheimnisses kommt und noch beim Auspacken so viel an Zuneigung verborgen hält, so gründet der Wunsch im Wesen des Geheimnisses - ja, er ist selbst das Wesen des Geheimnisses. Wenn der Wunsch sich hinschenkt, bleibt immer noch so viel an wünschender Zuneigung verborgen, so dass man ewig auspacken könnte, ohne je an den Grund des Wunsches zu kommen. Das Vertrauen vertraut auf die ungegründliche Insistenz des Wunsches.
3
Wir sind glücklich in der Ewigkeit, im Garten Eden. Doch schon auf dem Weg in der Zeit können wir dieses Glück finden, nicht durch Leistung, nicht durch verdienstvolle oder gute Taten, sondern durch unsere Offenheit zum Verborgenen hin. Die wahre gute Tat ist die Begegnung in Offenheit zum Verborgenen hin.
Glücklichmachen können wir auf den Wegen in der Zeit. Aus dem Glücklichsein kommt der Wunsch zum Glücklichmachen her, er kommt aus dem Garten Eden, von wo er herausgeschickt wird, um sich selbst zu sein, um zu sich selbst zu kommen auf den Wegen in der Zeit. Und der Mensch wird mit diesem Wunsch zusammen aus dem Paradies geschickt, so dass er diesen Wunsch selbst habe, dass er ihn selbst empfinde und selbst lebe, während er auf den Wegen wandelt und sich alles wandelt auf den Wegen.
Während sich alles wandelt auf den Wegen in der Zeit, bleibt doch die Heimat immer die selbe. Ist sie nicht die Heimat der Ewigkeit? Auch unser Name wandelt sich und bleibt doch immer gleich. Eine andere Stimme spricht ihn aus, mit einem anderen Tonfall, in einem anderen Dialekt vielleicht. Eine andere Stimmung herrscht in unserem Leben und sieht anders auf die Heimat, das Gesicht der Ewigkeit. Eine andere Geschichte wird erzählt über das Gesicht der Ewigkeit, doch bleibt es immer das selbe Gesicht der selben Ewigkeit: Heimat aller Wege und aller Wandlungen, Mitte unseres Lebens, das auf Wegen geht und auf diesen Wegen das Daheim des Geheimnisses beständig umkreist und es feiert in allen grossen Ur-Bildern des Lebens: Ehe und Familie, Religion und Kult, Kultur und Kunst, Sprache und Werk.
Durch diese Feier werden die Wege zur Heimat verwandelt in heimatliche Wege und das Leben verwandelt in ewiges Leben; sie erhalten ihren Namen, den sie schon immer trugen.
Es ist diese Verwandlung, die mit jeder Verwandlung in der Zeit berührt wird. Jede Verwandlung möchte die Wendung bringen zum Daheim des Geheimnisses, möchte Vertrauen schenken als Offenheit zum Verborgenen hin.
Die Verwandlungen in der Zeit kommen wie Wünsche aus dem Geheimnis hervor. Auch wenn es uns manchmal scheint, dass sich etwas in ein anderes verwandelt, irgendwie kausal, gibt dieses äussere Scheinen doch kein eigentliches Sinnverständnis her. Auf diese Weise bleibt die Verwandlung leer und beliebig und muss mit Ornamenten kausaler Sinngebungen verziert werden, mit "besseren Werten", die man durch die Verwandlung erreicht, als wäre das Leben ein Blut- und Nierentest.
Die Verwandlung aber, sie möchte uns umwenden zu unserem Geheimnis hin. Eine schöne Geschichte von der Verwandlung wird in der Bibel erzählt. Es ist die Geschichte von Hiob.

4
Der Name Hiob bedeutet "der Feind". Aber Hiob hat seinen Namen noch nicht wirklich gefunden. Er wandert auf den Wegen in der Zeit und fragt nach ihm. Seine Geschichte ist diejenige seiner Namensfindung.
Hiob lebt ganz glücklich in seiner Welt, mit seiner Familie, auf seinem Hof mit Tieren und Knechten. Er ist der Freund von jedermann. Alle mögen und schätzen ihn. Er feiert die heiligen Festtage, um seine Wege in heimatliche Wege zu verwandeln, und gehorcht allen seit Jahrhunderten liebevoll in Tradition und Überlieferung gewebte Erfahrungen, die es ermöglichen, das alltägliche Leben schön und voll zu machen und zu heiligen.
Alles ist gut, und umso schwerer überfällt die Verzweiflung der Vergänglichkeit sein Leben, als sich alles ändert. Ein Schicksalsschlag, ein Ausbleiben des Regens vielleicht, nimmt ihm die ganze Ernte und viele seiner Tiere. Er ist traurig, erschrocken ob der Gewalt des Schicksals, doch bleibt er ruhig und vertraut der guten Fügung Gottes. "Gott hat es mir gegeben, Gott nimmt es wieder zu sich."
Kennt er nicht schon das Wesen der Verwandlung, dass die Ewigkeit alles wieder zu sich nimmt, um es, neu, wieder aus sich zu entlassen? Gross ist das Gehorchen Hiobs, denn er gehorcht dem Inneren und vertraut auf das, was dort in seinem Inneren und in aller Überlieferung und Tradition gesagt wird. Jedermann trauert mit ihm und schätzt seine Grösse.
Doch die Verwandlung seines Lebens beginnt, nähere Kreise zu ergreifen: seine Frau wird ihm durch einen schrecklichen Schicksalsschlag genommen, eine schwere Krankheit vielleicht oder ein Unfall. Tief ergreift ihn die Verzweiflung ob der Vergänglichkeit der Welt, und tief packt ihn die Angst und der Zorn. Und doch, er fasst sich wieder, sieht das Schicksal und gehorcht dem Inneren, das spricht: "Gott hat sie mir gegeben, Gott nimmt sie wieder zu sich zurück."
Ist sein Gehorchen nicht grossartig, kommt es nicht aus seinem unerschütterlichen Vertrauen hervor, dass die Ewigkeit alles in der Welt wieder zu sich nimmt und es im eigenen Namen wieder entlässt? Jedermann kommt zu ihm, versucht zu trösten und schätzt seine Grösse. Und Hiob geht weiter auf seinem Weg.
Die Verwandlung aber bleibt nicht stehen bei seinen Nächsten; sie erfasst ihn selbst. Hiob wird krank. Er bekommt eine Krankheit, und jede Krankheit heisst in der Bibel "zorat", "Psora": Hautkrankheit. Es ist die Krankeit der Äusserlichkeit; die Äusserlichkeit selber ist nicht die Krankheit, aber es fehlt ihr etwas, nämlich die Innerlichkeit, die Ewigkeit. Psora ist die verzweifelte Sehnsucht nach Ewigkeit.
"Hab ich denn keine Beziehung zur Ewigkeit? Gehorche ich denn nicht dem Inneren, wie es in Tradition und Überlieferung zum Ausdruck kommt?", fragt Hiob, schreit es heraus, und plötzlich ist niemand mehr da bei ihm, alle ziehen sich zurück, geben ihm, bevor sie sich abwenden, noch ein paar gute Ratschläge mit auf den Weg, doch niemand schätzt ihn nun, niemand will sein Begleiter sein in seinem Zustand. Hiob hat seinen Namen gefunden. Aber er weiss noch nicht, was er mit ihm anfangen soll.
Auf seiner Suche nach dem Sinn seines Namens trifft er auf drei Freunde. Was aber soll ein Feind mit Freunden? Es ist doch die Geschichte von Hiobs Namenfindung? Nun gut, die drei Freunde versuchen dem Hiob zu helfen. Der erste sagt etwa: "Du bist selber schuld an Deinem Leid. Hast Du nicht dieses und jenes falsch gemacht in Deinem Ritual, Deinem Gehorchen der Überlieferung? Hast Du nicht bei dieser und jener Gelegenheit Deine Freunde beleidigt und Gott gefrevelt?"
"Ich glaube schon", antwortet Hiob, "dass ich vieles falsch gemacht habe. Was weiss man schon. Ich habe versucht, das Gute zu tun. Kann es denn immer gelingen? Könnte Gott mir böse sein, weil ich einen Fehler gemacht habe. Könnte er mich bestrafen wegen eines Fehlers?"
Da fällt ihm der zweite Freund ins Wort und bringt seine Argumente vor: "Keine Fehler hast Du gemacht, Fehler einfach so; Du hast Fehler selbst! Oft kannst Du nichts dafür, dass Du Fehler hast, denn Deine Eltern, Deine Lehrer haben Dir die Fehler eingewoben in Dein Inneres. Wie kannst Du Gutes tun, wenn Du im Inneren falsch bist, Dein eigenes wahres Selbst verdrängst und verleugnest?"
Und Hiob antwortet: "Mag schon sein. Was wussten mein Eltern schon, und was wussten meine Lehrer? Haben sie nicht das Gute getan, das sie vermochten, auch wenn das nicht viel war? Und wenn sie mir böse wollten, würde Gott mich nicht beschützen, würde er mir nicht helfen, von ihm direkt geschenkt zu kriegen, was von anderen nicht zu haben war?"
"Meine Freunde, ihr kommt alle nicht an den Kern heran", sagt nun der Dritte. "Der Kern des Leids von unserem Freunde Hiob hier ist, dass er der Fehler selber ist. Der Mensch ist sündig, und die Sünde, die geht tief. Sie erfasst das ganze Wesen eines Menschen und liefert ihn den Versuchungen des Teufels aus. Nur durch Gottes königlichen Willen kann man gerettet werden, bis dahin ist man einfach nur ein böser Schuft und muss leiden!"
"Ja, würde Gott denn das nicht tun? Er soll doch ein König sein!", ruft Hiob und ist ganz ausser sich, und innen drin, da stürmt’s und tobt’s, er kann sich gar nicht fassen. Und da, aus diesem Stürmen, kommt eine Stimme. Hiob wendet sich um und sieht, was die Stimme ihm erzählt. "Siehst Du nicht, wie Ich für die ganze Welt Mich sorge? Glaubst Du wirklich, dass Dein Hin- und Hergeworfensein, dass Dein Schaukeln im Sturm der Stürme kein Wiegen dieser Wiege ist? Du hast gefragt und weitergefragt nach Deinem Namen, nach dem Sinn Deines Leids, nach dem Sinn des Weges. Durch Dein Fragen hat sich Mein Wunsch erfüllt, denn Ich konnte Dir Deinen Namen schenken. Du bist Hiob, der Feind."

6
Was bedeutet diese Geschichte von Hiob und seiner Namensfindung? Am Ende der Geschichte ruft Hiob aus: "Bis jetzt habe ich Dich nur vom Hörensagen gekannt, doch nun habe ich Dich gesehen!" Wie ist das möglich? Hiob spricht doch hier vom Verborgenen, vom Geheimnis; wie kann er das Verborgene sehen?
Hiob macht eine Grenzerfahrung; er steht an der Grenze zwischen der verborgenen, ewigen Insistenz des Wunsches und der Existenz des sichtbaren Zeitgeschehens. Und er merkt, dass er schon immer da an dieser Grenze gestanden hat, dass Menschsein überhaupt das Stehen an dieser Grenze bedeutet.
Die Verwandlung, die er in seinem Leben erfährt, lässt ihn sich an der Grenze umwenden. Vor der Wende hat Hiob das Verborgene vom Hörensagen gekannt und das Offenbare, die Existenz und ihr Schicksal, gesehen. Dem Verborgenen hat er gehorcht, und auf das Äussere hat er gesehen, hat geschaut, wie er ihm gerecht werden kann und versucht, Einsicht zu erlangen in diese Existenz.
Doch nun, nach der Verwandlung, ruft er aus: "Nun sehe ich Dich!" Er steht an der Grenze und kehrt sich um, kehrt sich zum Verborgenen um und schaut es an. Sein Vertrauen, seine Offenheit zum Verborgenen hin lässt ihn das Verborgene "sehen", nicht mit äusseren Augen, sondern mit dem Herzen. Zur gleichen Zeit kehrt er dem Äusseren den Rücken zu. Nicht dass er es verachtet oder geringschätzt; im Gegenteil: er gehorcht ihm, hört, welche Botschaft das Äussere ihm überbringen möchte. Wenn er müde ist, legt er sich schlafen; wenn er hungrig ist, isst er. Doch er schaut nicht mehr so genau hin, er nimmt das Einzelgeschehen nicht mehr als das Ganze und Absolute. Er sieht in die andere Richtung und sieht in allem das Geheimnis, den Wunsch, und durch alle Wünsche hindurch sieht er den Ur-Wunsch, den Wunsch, glücklich zu sein und glücklich zu machen.
Jede Verwandlung geschieht an dieser Grenze und erzählt von dieser Wendung. In jeder Verwandlung ist dieser Feind da, Hiob: Das Alte ist der Feind des Neuen, und das Neue ist der Feind des Alten. Auf diese Weise geschieht Verwandlung und erzählt darin vom Grenzesein überhaupt, vom Wesen der Grenze.
Das Wesen der Grenze ist es, das Geheimnis des Wunsches zu schützen vor dem Wissenwollen der Existenz. Die Existenz ist unsicher, sie ist frei und unsicher, was sie denn mit ihrer Freiheit anfangen solle. Aus dieser Unsicherheit heraus verlangt es ihr nach Wissen, nach einem Halt, nach festen Regeln und Gesetzen, deren Befolgung sichere Ergebnisse zeitigen. Das Geheimnis möchte aber von Seinesgleichen erobert werden. Das Geheimnis ist ein Wunsch, und es möchte dem Wunsch in uns begegnen. Die Grenze schützt die Begegnung, indem es ihr Geheimnis verbirgt.
Das Wesen der Grenze ist es aber auch, die freie Existenz vor der Zudringlichkeit der Insistenz zu schützen. Den Wunsch drängt es in seiner Liebe zur Existenz hin, doch die Existenz möchte frei sein. Ihre Freiheit, so spürt sie, ermöglicht es ihr erst, dem Wunsch zu antworten, ihm eigentlich zu begegnen. Die Grenze schützt auch die existentielle Freiheit, indem sie den Wunsch im Geheimnis lässt.
Die Grenze ist "der Feind" beider Seiten, schützt je das eine vor dem anderen und schützt darin ihre Liebe zueinander. Hiob ist dieser Feind, und der Mensch ist es mit Hiob. In jeder Verwandlung findet der Mensch mit Hiob ein Stückchen seines Namens, wendet sich um und sieht das Innere und hört auf das Äussere. In jeder Verwandlung schaut er durch die Tür, sieht Vater oder Mutter an der Wiege stehen und versteht. Der Feind, die Verwandlung, verwandelt alles und bringt die Wendung.
Am Ende der Geschichte erhält Hiob all das, was er verloren zu haben schien, wieder doppelt zurück. Gerade die Grenze und das Grenzesein ermöglichen dieses Doppelte: als Feind, als Grenze, wird alles verbunden, Himmel und Erde, Insistenz und Existenz, Vater und Mutter. Durch die Wendung erhält die existentielle Entscheidung eine andere Bedeutung, eine andere Sicht gibt ihr diese andere Bedeutung. Sie scheidet als Grenze das Ewige vom Zeitlichen, verbindet aber darin in tiefer Entschlossenheit, also in tiefer Offenheit, den eigenen Wunsch mit dem Wunsch des Seins, des Glücklichseins.

7
Die Existenz ist entscheidend, gerade weil sie alles verbindet. Sie ist entscheidend, weil in ihr das verborgene Glücklichsein sich hinschenken kann im Wunsch des Glücklichmachens. Die Wiege des Lebens wiegt hin und her zwischen dem Glücklichsein und dem Glücklichmachen, und der Feind steht dabei und sieht zu, dass es nie aufhört zu wiegen. Der Feind ist der Feind der Stagnation, der Erstarrung.
Der Mensch ist dieser Feind, und seine Bestimmung ist, glücklich zu sein und glücklich zu machen. Aber so, dass das Glücklichsein nicht das Glücklichmachen überfällt, nicht zu stark insistiert mit seinem Wunsch. Dann würde das Glücklichmachen zur reinen Macht. Diese Gefahr ist immer da, und man kann ihr nicht entkommen. Glücklichmachen ist ein Wagnis, denn sie möchte dem anderen Heimat schenken.
Das Glücklichmachen aber soll nicht das Glücklichsein verdrängen. Jeder Mensch ist in seinem Verborgenen bereits glücklich. Das Glücklichmachen ist deshalb keine Magie, keine Technik, die einem anderen das Glück einpflanzt oder gar aufzwingt. Das Glücklichmachen möchte das eigene Glücklichsein mit dem anderen teilen. Zeit heisst Teil; in der Zeit teilen wir das eigene Glücklichsein auf den Wegen in der Welt, teilen wir unsere Heimat, dass sie grösser werde, so gross, dass alle Wege zu ihr führen.
Und auch die Offenheit zum Verborgenen hin, die sich in der Wendung an der Grenze öffnet, ist keine Magie. Das Verborgene, das Geheimnis öffnet sich nicht unserem wissenden Blick, sondern unserem Vertrauen. Keine "geheimen Welten", keine "Geheimlehren" werden uns da geöffnet, sondern unsere Herzen. Nicht die Befreiung oder Erlösung ist das Entscheidende, nicht blosse Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und Tod und auch nicht blosse Erlösung aus dem Jammertal der Gefängniswelt. Entscheidend ist die offene Existenz an der Grenze zur Insistenz: Wir schauen durch die Türe, wo wir den Vater und die Mutter sitzen sehen an der Wiege. Das Bild hängt an der Wand und trägt unseren Namen.
Insistenz und Existenz, Vater und Mutter sitzen an der Wiege. Das Kind aber, die Liebe, träumt noch von sich selbst, ungestört von unserem Wissenwollen, und, wenn es ihm selbst gefällt, wird es aufwachen, wird es wach und das unsrige sein.

 

 
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